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Schulz, Georg-Michael: Joachim Wilhelm von Brawe: ›Brutus‹ (1758). In: Tugend, Gewalt und Tod. Das Trauerspiel der Aufklärung und die Dramaturgie des Pathetischen und des Erhabenen. Tübingen: Niemeyer 1988. S. 220-226.

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3. Joachim Wilhelm von Brawe: ›Brutus‹ (1758)

[...] Der Tugend Majestät,
Die sich in ihm [= Brutus] in vollem Pomp enthüllt,
Gebot Bewunderung. [...] (S. 220) [37]

So schildert Marcius den Eindruck, den Brutus auf ihn gemacht hat. Auffällig ist dabei der Ausdruck »Pomp«, also der Umstand, daß die Tugend hier eine Art von Schauseite erlangt, ein nach außen gekehrtes majestätisch-erhabenes Gepränge. [38] Und man könnte versucht sein, darin eine ironische Reaktion auf die – zumal in den ›Römerdramen‹ – dauernd wiederholte Inthronisation der Tugend zu sehen. Nur, Brawe wird diesen »Pomp« – im Sinne einer eindrucksvoll sichtbaren Leuchtkraft der Tugend – ganz wörtlich gemeint haben. Denn er steigert die dadurch hervorgerufene Bewunderung noch, indem er den Marcius zugleich auf Brutus' Bescheidenheit und edle Empfindsamkeit hinweisen läßt:

[...] So göttlich groß
Der Held sich in ihm [= Brutus] zeigt, wenn ihn Gefahr
Und Kampf und naher Tod zu Wundern weckt:
So groß und größer noch erscheint der Mensch.
Sein edelmütig Herz weint in der Still',
Wenn er von Bürgersiegen kömmt, und haßt
Den Ruhm, haßt die Bewunderung, die ihn
Hartnäckiger verfolgt. (ebd.)

Und das ist natürlich doppelt erhaben. Zwar mag man sich fragen, ob Brawe nicht tatsächlich die empfindsame Menschlichkeit [39] über den martialischen Heroismus stelle. Aber das wäre wohl eine übereilte Folgerung. Brawe scheint bereit, der weichherzigen Menschlichkeit Größe zuzuerkennen. In dem Maße jedoch, in dem er die Tradition des heroischen Trauerspiels aufnimmt und fortführt, rückt er – nolens, volens – doch die kriegerisch-heroischen Züge seines Titelhelden in den Vordergrund. Daß die martialische Männlichkeit sich tatsächlich gegen jede empfindsame Aufweichung wieder durchsetzt, deutet sich im übrigen auch schon in der zitierten Passage an, nämlich in dem zweimal auftauchenden Begriff des ›Hasses‹: Brutus »haßt« den Ruhm und »haßt« die Bewunderung – es ist ein denkbar aggressiver Affekt, in dem sich sein »edelmütig Herz« offenbart, ein Affekt nämlich, in dem die grimmige Energie des konzentriert-willentlichen Heroismus fortdauert.

Das Trauerspiel beginnt kurz vor der Schlacht bei Philippi (42 v. Chr.), in der <Seite 221:> die Cäsar-Mörder unterliegen. Von den bekannten Vertretern der beiden Parteien tauchen im Drama nur einerseits Brutus und andererseits Anton (Marcus Antonius) auf. Brutus' eigentlicher Gegenspieler ist Publius, der in Antons Heer dient und zu dem (von Rom unterworfenen italischen) Volk der Samniten gehört. Erfüllt von fanatischem Haß, ist er ausschließlich am Untergang Roms interessiert, während Anton, der erst in der letzten Szene auftritt, nur nach der Herrschaft strebt. Durchaus motivierte Rachegelüste [40] inspirieren Publius zu einem teuflischen Plan. Ihm ist Marcius, der totgeglaubte Sohn des Brutus, als zweijähriges Kind in die Hände gefallen. Er zieht Marcius als seinen eigenen Sohn auf und schickt ihn zu Brutus mit dem Auftrag, gegen diesen zu intrigieren. Marcius wird zwar zum Freund des Brutus (also seines wahren Vaters), er schwenkt aber, seinem vermeintlichen Vater Publius gehorchend, während der entscheidenden Schlacht mit den ihm von Brutus anvertrauten Truppen auf die Seite Antons über, woraufhin diesem der Sieg zufällt. – An Brutus' Niederlage – das sei kurz eingefügt – ist Publius deshalb interessiert, weil auch er, der feindliche Intrigant, in Brutus eine Verkörperung des ›besseren‹, des moralisch gefestigten und politisch überlebensfähigen Rom sieht; ohne Brutus ist Rom rettungslos zum Untergang verdammt. Publius' besondere Infamie liegt darin, daß Brutus' eigener Sohn, Marcius, diesen Untergang, wenngleich widerstrebend, herbeiführen wird. Vor der Bösartigkeit dieses Plans schrickt sogar Publius selbst einen Moment lang zurück, um sich dann jedoch wieder seiner Ziele zu erinnern und sich selbst das ›niedere Mitleid‹ (das mit Marcius) zu verweisen (S. 222). – Ich kehre zur Skizze der dramatischen Handlung zurück. Nachdem der tödlich verwundete Publius Brutus über die tatsächlichen Familienverhältnisse aufgeklärt hat, tötet (der militärisch ohnehin bereits geschlagene) Brutus sich selbst, um dem inzwischen von Raserei gepackten Marcius einen (Auftrags-)Mord zu ersparen, der tatsächlich ein Vatermord wäre. Marcius, wieder bei Besinnung und seinerseits aufgeklärt, begeht Selbstmord.

Brawes ›Brutus‹ hat mit Gottscheds ›Sterbendem Cato‹ allerlei gemein. [41] Das gilt zunächst für die dramatische Konfiguration: für den Verfechter der republikanischen Freiheit in der Rolle des Protagonisten (Cato, Brutus) und für die doppelt besetzte Gegenseite: den herrschsüchtigen Römer (Cäsar, Anton) neben dem Nicht-Römer als eigentlichem Intriganten (Pharnaces, Publius). Es gilt aber auch für einzelne Handlungselemente, besonders für die Anagnorisis (Porcia und <Seite 222:> Marcius sind beide als Kinder im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen ihren Vätern verlorengegangen und in Unkenntnis ihrer eigentlichen Herkunft aufgewachsen). Bei einem solchen Vergleich fallen freilich – vom Sprachlichen ganz abgesehen – auch die Unterschiede ins Auge, Unterschiede in der Verknüpfung dramatischer Motive und in der Personengestaltung, d. h. in der Motivierung ebenso wie in der Ausgestaltung psychischer Zustände und Vorgänge. Besonders Brawes Marcius zieht hier mit seinem ›tragischen‹ Konflikt die Aufmerksamkeit auf sich. Einerseits soll er dem vermeintlichen Vater Publius gehorchen; er hat diesen Gehorsam sogar mit einem feierlichen Schwur bekräftigt (S. 239f.), und damit nicht genug: Publius behauptet überdies, er habe dem Anton sein eigenes Leben für den Gehorsam des Marcius verpfändet, so daß dessen Untreue gleichbedeutend mit einem Vatermord sei (S. 241). Andererseits ist es nicht nur die private Freundschaft zu Brutus, die für Marcius auf dem Spiel steht. Er ist (wenn auch ursprünglich mit intriganten Absichten) zu einem Gefolgsmann des Brutus geworden; gehorcht er seinem (vermeintlichen) Vater, dann wird er – nicht nur gegenüber Brutus, sondern bezogen auch auf das Ethos des Kriegers – zum ehrlosen Verräter. Und in der Tat: in der moralischen Erniedrigung seines Sohnes soll Brutus selbst getroffen werden. »Erkenn«, sagt der sterbende Publius zu Brutus, »daß dieser niedrige / Verräter [= Marcius], diese Pest des röm'schen Volks, / Dein Sohn ist« (S. 257). »Niedriger« (S. 266), »Unwürdiger« (S. 267), so spricht Brutus den Marcius nach dessen Verrat an; und Marcius selbst sieht sich als »Verlorenen« (ebd.) und als »Verworfnen« (S. 268).

Das Pathetische – ich komme auf Marcius gleich zurück –, das Pathetische hat hier mehrere Quellen. Eine ist der Haß des Publius, der sich wiederholt in langen Tiraden Ausdruck verschafft. Ein Beispiel:

[...] Ist [= Lebt]
Nicht Brutus – Ja, dies Wort ruft in die Brust
Den ganzen Haß zurück. Frohlocke, wenn
Ins Schattenreich der Erden Freude dringt,
Geist meines Vaters! Bald bist du gerächt.
Ein größrer Frevel, wenn dies möglich ist,
Vertilgt dies feindliche Geschlecht [= das des Brutus], als der,
Der unseres vertilgt – dich schlug ein Feind,
Und deines Mörders Sohn erschlägt – es bebt,
Entsetzen durch mich hin, wenn ich den Plan
Der Rache denke; – doch nur er verdient,
Von mir gewählt zu werden. Welch ein Meer
Von Qualen strömt auf dich. Hochmütiger [= Brutus],
Der längst der Ohnmacht meines Zorns getrotz!
Doch zu begrenzter Haß! wenn Brutus nur
Sein Opfer wird: nein! mit ihm falle Rom –
Rom, das ich stets gehaßt, das mein Geschlecht,
Mein Volk, das ganz Italien, mit uns
Der Kreis der Erde haßt; Rom, das von Blut,
Das die Natur zu lieben mir gebot,
Noch trunken ist; tyrannisch stolzes Rom!
[usw.] (S. 222f.)

<Seite 223:>

Der ›größere Frevel‹ erfüllt den Intriganten selbst vorübergehend mit »Entsetzen« (wie oben schon angedeutet): »dich«, den Vater des Publius, »schlug ein Feind«, nämlich im Krieg, »Und deines Mörders Sohn«, also den Brutus, »erschlägt –« (sein eigener Sohn Marcius). Der Abbruch des Satzes – es verschlägt Publius die Sprache – soll das menschlich Ungeheuerliche kennzeichnen: der Krieg wird in die Familie hineingetragen und zerstört die naturgegebene Beziehung zwischen Vater und Sohn. [42] Und nicht nur das: bezogen auf Marcius, handelt es sich geradezu um den Versuch, einen Menschen moralisch zu zerstören. Marcius' Konflikt und sein entsprechendes Leiden – eine zweite Quelle des Pathetischen in diesem Drama – nehmen gehörigen Raum in Anspruch. Marcius fühlt sich von Publius »verurteilt« zur »Schmach«, er wehrt sich dagegen mit der »Gewalt« seiner Bitten – vergeblich: »Zu sehr hast du [= Publius] / Dich gegen die Gewalt von meinem Flehn / Verwahret« (S. 239). Ihm bleibt der Weg in die erwähnte Erniedrigung nicht erspart: er wird zum »niedrigsten Verräter«, wird ein »Unmensch«, getragen von der »Gewalt« der »Hölle« und vorwärtsgetrieben von den »Furien«, versunken in »Raserei« und »Trunkenheit« (S. 262).

Den Zuschauer soll dieser Vorgang erschüttern. Aber die Erschütterung soll nicht der letzte Affekt sein: wenn Marcius sich schließlich dem tödlich verwundeten Brutus zu Füßen wirft, um Mitleid bittet und dieses Mitleid tatsächlich erlangt, dann soll auch die Erschütterung des Zuschauers sich in Mitleid auflösen, ohne daß da noch irgendeine Beklemmung beigemischt bleibt. Auch das freilich bildet noch nicht den Schlußpunkt. Zu guter Letzt nämlich schwingt Marcius sich zu einer flammenden Rede auf. Ohne daß sein Unglück gemildert würde, erhebt er sich über die Rolle des bloßen Opfers; er wird zum Seher:

Was stürmt in mir empor? – Welch fremd Gefühl? –
Ergreift mich schon die Hölle? – Donnern schon
Des Todes Ström' um mich herum? – Ihr seid's!
Begeisternd stürzt ihr euch, ihr Furien,
In mich! – Ihr gießt in den erstaunten Geist
Prophet'schen Tag. – Ich hör' euch, redet! – Schon
Entwölkt sie sich, die ganze Zukunft steht
Vor mir. [...] (S. 272)

In der Rolle des Propheten weissagt Marcius dem Anton den Untergang in zum Teil großartigen Bildern:

[...] Erzittr' Anton! – Er kömmt.
Vom Occident wälzt erderschütternd sich
Dein Untergang daher. – Ohnmächtiger!
Bewaffne deine Welt, verbirg das Meer
Durch deine Segel! – Keinen Widerstand,
Zahlreiche Flucht bereitest du – denn sie
Sind wider dich, die Götter. [usw.] (ebd.)

Die pathetische Gewalt der Vision, die den Marcius ergriffen hat, soll auch dem Anton widerfahren:

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[...] Du fühlst es: deine Wut bezähmt
Ein Gott; allmählich zwingt er dich, von mir
Dein Urteil ganz zu hören. – Hör es denn!
Die Schrecken deines Tod's weissagen dir
Noch schwärzere, die wider dich im Reich
Der Nacht sich rüsten, sie, die jetzo mich
Erwarten, mich den einz'gen Frevler, der
Dir gleich ist. [...] (S. 272f.)

Wie Anton – »Du fühlst es« – soll auch der Zuschauer den Bann mitfühlen, der über die Frevler verhängt ist: den Schrecknissen des Todes wird das »Reich der Nacht«, also die (christliche) Hölle, noch »schwärzere« hinzufügen. – Marcius, wiewohl wider Willen ins Unglück geraten, steht zu den Taten, die er begangen hat:

[...] Erde, flieh! Des Todes Scen'
Und mein Gericht enthüllt sich. – Heil dir, Graun!
Sitz der Verzweiflung, Heil! Qualvoll bist du
Mein würd'ger Aufenthalt. – Stärkt euren Zorn,
Ihr Flammen! und vernichtet mich! – Du denkst
Noch, Seele? dir, Gedank'! Empfindung, dir
Fluch ich! vergeh! – Weg sträubend Leben! nimm
Mich, Abgrund! Erde! sei von mir befreit!
Er tötet sich. (S. 273)

Mit der Selbsttötung erhebt Marcius sich, wie eben angedeutet, über die Rolle des bloßen Opfers. Daß er dennoch viel weniger als z. B. Cronegks Helden auf seinen Tod hin lebt, zeigen die letzten Verse: Denken und Empfinden sind Lebensvorgänge, die als solche – im Sinne einer psychophysischen Einheit – lebenserhaltend wirken und, da sie nicht von sich aus erlöschen, eigens verneint, nämlich emphatisch ›verflucht‹ werden müssen; denn das Leben überhaupt sträubt sich gegen den Tod, und nur die drängende Vorstellung, sich selbst bestrafen zu müssen, verschafft Marcius jenes Maß an Willenskraft, das nötig ist, um dieses Sträuben zu überwinden.

Publius mit seinem Haß und Marcius mit seinem Konflikt und seinem Leiden bilden als hochpathetische Figuren den Hintergrund, von dem sich schließlich Brutus abheben soll. Seine Affekte sind gänzlich auf Rom und dessen Wohlergehen, dessen politische und moralische Zukunft bezogen. Das ist nun freilich ein nicht mehr taufrisches Motiv, in dessen Rezeption Brawe jedoch um eine gewisse Belebung bemüht ist. So berichtet Brutus gleich eingangs von einem visionären Traum, in dem, wie sich nachträglich zeigt, die ganze weitere Entwicklung vorangekündigt ist. Eher konventionell ist der Konflikt, in den Publius Brutus stürzt mit der falschen Behauptung, Brutus Sohn lebe noch, aber im Lager Antons und sei nur zu retten, wenn Brutus sein Engagement für Rom opfere:

Publius. [...] entschließe dich!
Brutus. Es ist geschehn!
Publius. Was wählst du?
Brutus. Meine Pflicht,
Roms Heil, den Krieg – Den Göttern überlaß
Ich meines Sohns Geschick. [...] (S. 236)

<Seite 225:>

Und später:

[...] Hör auf, fruchtlose Qual
In dies zerrißne Herz zu reden! – Ganz
Fühl' ich, welch Opfer ich dem Vaterland
Darbringen will. Vom Schmerz, den Worte nicht
Erschöpfen, überströmt fühl' ich es. – Doch
Unüberwunden steht noch mein Entschluß. –
Vergieb mir, Sohn! nur Pflicht, nur Vaterland
Zieh' ich dir vor! [...] (S. 237)

Das ist erhaben – in der Nachfolge des Corneilleschen Horace und des Gottschedischen Cato. Etwas aufgeweicht wird diese starre Haltung durch Brutus Tränen, die zwar – ähnlich denen Catos – zunächst wiederum Rom gelten, nämlich »Roms Tod« (S. 259), hernach aber auch dem verirrten Sohn Marcius (S. 262, 269). Von Gottscheds Cato heißt es: »Den Sohn beweint er nicht; um Rom vergießt er Thränen!« [43] Ganz so starr erscheint Brutus nicht. Und doch soll auch an seiner römischen Haltung kein Zweifel bleiben – Messala, Brutus' Vertrauter, zu diesem selbst:

Freund! letzter Römer! – Wie zeigst du dich groß,
Eh du sie fliehst, die Erde? Nicht um dich,
Um Rom nur fließt die letzte Thräne dir.
Die fernste Welt hör' es erstaunt. Es hör's
Kein Edler je, kein Patriot, daß nicht
Sein weinend Auge dich verherrliche? (S. 265)

Das ist – und das mag uns Nachgeborene wiederum erstaunen –, das ist von Brawe ganz auf das zeitgenössische Publikum berechnet: der Zuschauer soll erstaunen und vor Ergriffenheit mitweinen.

Das Erstaunen – es sei daran erinnert, daß Erstaunen und Verwunderung einerseits und Bewunderung andererseits hier noch eng zusammenhängen –, dieses Erstaunen gebührt freilich zu guter Letzt nicht einem vergänglichen Menschen, sondern dem Schöpfer und Lenker selbst: »O du der Götter Gott! / Erstaunlich Wesen!« (S. 270). Wie Gottscheds Cato endet auch Brawes Brutus mit einem Anruf der Götter und mit der Bitte um Vergebung. Nur lenkt Brawe dieses Motiv ganz in christliche Bahnen, indem er seinen Brutus den einen Gott über den vielen Göttern anrufen läßt:

[...] O du der Götter Gott!
[...] der du
Die Sonnen und den Tugendhaften schufst,
Und ihn noch da belohnst, wenn Sonnen schon
Verloschen sind [...]
[...] Vergieb,
Daß ich den Tod beschleuniget, den ich
Von dir erwarten sollte. – Staub bin ich
Und Unvollkommenheit, und du – bist Gott.
Ein unaussprechliches Gefühl sagt mir,
<Seite 226:>
Daß du der Gütigste, zum Segnen Gott
Und nur für Frevler ein Verderber bist.
Nimm Brutus auf. Dich anzubeten, dich
Zu denken, dies sei seiner Ewigkeit
Geschäft. [...] (S. 270)

Das ist nochmals erhaben. Nur liegt das Erhabene hier nicht mehr im heroischen Bekenntnis zur moralischen Pflicht und gegen das menschliche Empfinden. Erhaben ist vielmehr das Göttliche, und diese Beziehung zum Göttlichen bestimmt auch Brutus' weitere Äußerungen, wenn er sich voller Versöhnung an Marcius wendet, dann Anton nur ermahnt, statt ihn zu verfluchen, [44] und schließlich seiner Freunde gedenkt. ›Rom‹ ist zwar Brutus' letztes Wort: »Unendlicher, – sei meiner Freunde – Schutz – / Und Roms –« (S. 271). Dennoch wird der Heroismus, der im Drama selbst unter das Vorzeichen des Stoischen rückt, [45] hier abgelöst durch eine religiös gestimmte Milde und Versöhnlichkeit, die ihrerseits mit einem entsprechenden Wandel des Gottesbildes verbunden ist. Vorher nämlich hat Brutus sich noch an die »Gottheit« als Herrin über die »Gewalt« gewendet: »Gieß in unser Schwert / Gewalt und Furchtbarkeit. – Entsetzen, Flucht / Send unter sie [= die Feinde]« (S. 250). Nunmehr sagt ihm das Gefühl – »Ein unaussprechliches Gefühl« (S. 270) –, daß »du [= Gott] der Gütigste, zum Segnen Gott / Und nur für Frevler ein Verderber bist« (ebd.).

Römisch-Heroisches und Christliches mögen hier ein wunderliches Gemisch bilden. Bemerkenswert bleibt dennoch die Tendenz, das Erhabene aus der engen Fixierung auf das Kriegerisch-Heroische zu lösen und gleichsam anzureichern um eine transzendente Dimension – mit dem Ergebnis, daß auch die pathetisch-ergreifende Wirkung sich (über die Bewunderung für den individuellen Helden hinaus) zu jener Ehrfurcht erweitert, die dem Göttlichen gebührt.


<Seite 220:>

[37] Ich zitiere das Drama nach: Lessings Jugendfreunde (DNL 72, ed. Minor). Bei dem Text handelt es sich um eine von Karl Wilhelm Ramler überarbeitete Fassung (1767). Zum Drama vgl. Minor, ebd. S. 205-209; Heitner, S. 219-224.
[38] Minor zufolge (S. 215 Anm.) ist »Pomp« ein »Lieblingsausdruck« Brawes. Aber bei keinem der von Minor angeführten Belege scheint mir der Kontrast zwischen dem Pomp und dem damit ausgestatteten Phänomen derart auffällig wie bei der Tugend.
[39] Mit den »Bürgersiegen«, denen Brutus' stille Tränen gehen, sind wohl Siege im römischen Bürgerkrieg gemeint, d. h. Siege, bei denen Rom als Inbegriff der ›republikanischen Idee‹ gewinnt, aber das tatsächliche Gemeinwesen Rom Schaden nimmt.

<Seite 221:>

[40] Motiviert auf der politischen und der persönlichen Ebene. Erst der Sieg über die Samniten (in drei Kriegen zwischen 343 und 290 v. Chr.) läßt Rom zur führenden Macht Italiens werden; und im Jahr 82 v. Chr. zählen die Samniten nochmals zu den Opfern, als Sulla (nach seinem Sieg über die Popularen) 6000 Samniten, die gegen ihn gekämpft haben, ermorden läßt. – Offenbar im Zusammenhang damit (vgl. S. 226) sind der Vater und die Brüder des Publius getötet worden, und zwar von Brutus' Vater (S. 220f., 222), der seinerseits nach einer Niederlage im Kampf gegen Pompejus auf den Rat des Publius hin getötet wird (S. 235). Publius sieht sich selbst durchweg als den Rächer Samniums und seines eigenen Vaters.
[41] Minor weist in der hier zugrunde gelegten Ausgabe wiederholt in Fußnoten auf Addisons ›Cato‹ hin, der ja Gottscheds Quelle ist.

<Seite 223:>

[42] Erinnert sei an entsprechende Äußerungen des Gottschedischen Cato; vgl. oben S. 99.

<Seite 225:>

[43] Gottsched: Werke II, S. 97.

<Seite 226:>

[44] »Auch dir, Tyrann, flucht nicht mein starrer Mund. / Mein Geist, der das Unsterbliche schon fühlt, / Erniedrigt sich nicht mehr zum Haß herab« (S. 271).
[45] Vom »schwärmerischen Stolz des Stoikers« (S. 236) spricht Publius in bezug auf Brutus; Anton nennt diesen und dessen Freunde »Verirrte Stoiker« (S. 269).


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