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Moses Mendelssohn: An Lessing. 29.4.1757. In: Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Band 19. Hg. von Karl Lachmann. Dritte, aufs neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. Leipzig: Göschen 1904. S. 72-74.

<Seite 72:>

61. Von Moses Mendelssohn.

Liebster Freund!

Wenn Sie wüßten, daß wir 8 Feyertage gehabt, in welchen man, wie Sie wissen, zu nichts anders Lust hat, als verdrießlich zu seyn; wenn Sie wüßten, daß ich nach diesen unnützen Tagen wiederum 14 Tage krank gelegen habe; so würden Sie sich nicht über mein Stillschweigen beschweren. Indessen bin ich doch nicht ganz müßig gewesen. Ich habe alle die Punkte aufgesetzt, darüber wir uns bereits verglichen, und auch diejenigen, da noch sub judice lis est. Diesen Aufsatz hat Hr. Nicolai zu sich genommen; er will einige Zusätze dabey machen, und ich wünschte, daß Sie das versprochene Buch noch so lange da behielten, bis Sie dieses Projekt zu einer Kapitulation gelesen. Wenigstens wird es zu nähern Erklärungen Anlaß geben, und zugleich verhindern, daß wir nicht unser Augenmerk aus dem Gesichte verlieren, wie sonst bey dergleichen Streitigkeiten gewöhnlich ist.

Mit meinem Urtheile über den Freygeist muß es schon noch einigen Anstand haben. Herr Nicolai will dieses Trauerspiel mit mir gemeinschaftlich durchgehen. Wer weiß indessen, ob er Wort hält? Sie Herren Beaux Esprits sind ziemlich bereitwillig, viel Gutes zu versprechen, und wenns zum Treffen kömmt, so bedenken Sie erst, daß Ihre Gemächlichkeit darunter leiden würde, wenn Sie alles Versprochene leisten wollten.

Herr v. Premontval hat einen Theil von seinen Protestations herausgegeben. Ich habe sie aber noch nicht gelesen, bin auch bey dem <Seite 73:> Manne seit langer Zeit nicht gewesen. Er hat wirklich wunderlich Zeug im Kopfe, und man thut ihm Unrecht, wenn man glaubt, er wolle nur paradox scheinen. In der Metaphysik ist auch nichts mit ihm auszurichten. Sie wissen, daß alle Materien, die in die Metaphysik einschlagen, so sehr an einander hangen, daß man niemanden von seiner Meinung überführen kann, wo man nicht beständig mit ihm umgeht, und einen Punkt nach dem andern vornimmt. Ja, man muß es an Wiederholungen nicht fehlen lassen. Sonst wird es dem Gegner nie an Mitteln fehlen, den Streit von einer Materie in die andere bis ins Unendliche zu führen. Der Streit zwischen Klark und Leibnitz würde vielleicht noch dauern, wenn nicht der Tod ihr Schiedsrichter gewesen wäre.

Kurz, ich habe bey mir beschlossen, wo es nicht mit Lessing geschehen kann, mich sonst mit niemanden in einen Streit über philosophische Materien einzulassen. Ihre Rechtgläubigen haben immer eine große Rücksicht auf die geoffenbarte Religion, die mir einer Hinterlist ähnlich sieht, und ihre Zweifler und sogenannten Freygeister sind vollends nicht auszustehen. Ich hatte mir einen ganz andern Begriff von der Welt gemacht, als ich sie blos aus den Büchern und aus dem Charakter eines Lessings kannte. Ich erstaune, wenn ich die Macht bedenke, die das Vorurtheil über die Gemüther hat. Es ist kein Theil in der Weltweisheit, keine Wissenschaft überhaupt, die nicht mit den gröbsten Vorurtheilen von der Welt in einem Subjekt sollte bestehen können. Ein jeder sucht die Wahrheiten, die ihm bekannt sind, so gut mit seinen Lieblings-Vorurtheilen durcheinander zu weben, als er kann; und wenn er sich eine Zeitlang an seinem Gewebe vergnügt hat, so glaubt er sein System auf Gründe gebaut zu haben.

Wozu dieses Geschwätze? werden Sie fragen, indem Sie vielleicht schon müde sind zu lesen. – Ich weiß es selbst nicht so recht deutlich zu erklären, wie ich auf diese Gedanken komme. Indessen sind dieses doch wirklich die Gründe, die mich zuweilen ziemlich verdrießlich machen, und die mich zu dem Entschlusse gebracht haben, außer Lessing und Nicolai keinen Freund zu suchen, und sogar alle Bekanntschaft aufzuheben, die ich gemacht hatte. Hätte ich fortgefahren, Menschen kennen zu lernen, so hätte ich vielleicht angefangen, auch ihre Schriften nicht mehr zu lieben.

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Genug für diesesmahl, weil ich heute noch nicht aufgelegt bin, meine Gedanken zu rangiren. Leben Sie also wohl, mein bester Freund!

Berlin,
den 29. April 1757.

Moses.

N. S. Es dauert mich, daß dieser halbe Bogen unbeschrieben bleiben soll. Was schreibe ich sogleich her, das mich nicht viel Mühe kostet? – – – Hier ist was! Zu Anfange des Winters hatte ich an einem Abende folgende Verse gemacht. (Ich habe gelogen. Ich mag wohl mehr als 6 Abende darüber zugebracht haben; allein Poeten müssen wacker lügen.)

Itzt liegt der träge Schwarm von steten Qualen matt,
Nachlässig hingestreckt, auf weicher Lagerstatt.
Das Thierische ist todt. Empfindung, Sinn, Bestreben
Hört plötzlich auf, und nur die Pflanze hat noch Leben.
Der rege Trieb entschläft, der sie durchs Leben jagt.
Als Pflanze ruht der Mensch, als Mensch ist er geplagt.
Wer niemals denkt, wer sich wie Thiere weidet,
Verfehlt des Schöpfers Zweck; wer immer denkt, der leidet.
Die steinerne Vernunft wetzt jenen Stachel ab,
Der uns zum Fühlen reizt, und wird der Freuden Grab.
Versuchts, o Sterbliche! bekämpft der Thorheit Götzen,
Die Sucht nach eitlem Ruhm, den Durst nach feilen Schätzen.
Besiegt den weichen Trieb, der euren Geist entnervt,
Die Seel' in Schlummer wiegt, den Reiz der Sinne schärft.
Verjagt die Phantasie und ihre Zauberschatten,
Die auch der Wahrheit Glanz mit Rauch umnebelt hatten,
Und sucht in Weisheit Ruh. Doch sagt, erlangt ihr sie?
O zieht die Menschheit aus, seyd Engel oder Vieh,
Wenn ihr die Ruhe liebt. Kein Mittelding von beyden
Frißt unbekümmert Gras, verträgt des Engels Freuden etc.

Denken Sie nicht, daß dieses etc. wieder eine poetische Aufschneiderey sey. Ich habe wirklich noch mehr dergleichen Dinge fertig, die so aussehen wie Verse. Die erste Strafe, die Sie verdienen werden, soll in nicht weniger als einigen Hundert dergleichen bestehen.


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