Brawe Ressourcen Logo | unten |

Lessing, Gotthold Ephraim: An Moses Mendelssohn. 21.1.1758. In: Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Band 17. Hg. von Karl Lachmann. Dritte, aufs neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. Leipzig: Göschen 1904. S. 134-135.

<Seite 134:>

89. An Moses Mendelssohn.

[Leipzig, 21. Januar 1758.]

Mein lieber Moses!

So bin ich wirklich daran schuld, daß Sie nicht fleißiger sind? Das thut mir leid. Vielleicht zwar, wenn Sie fleißiger gewesen wären, hätten Sie nicht an die Schönheitslinie gedacht. Da sehen Sie, was es für eine vortrefliche Sache um das Nichtsthun ist; man bekommt, wenn man nichts thut, hunderterley Ideen, die man sonst schwerlich würde bekommen haben. Auch ich z. E. habe vor lauter Müßiggang und Langerweile den Einfall bekommen, das englische Buch, welches ich Ihnen schicken wollte, zu übersetzen. Es ist auch wirklich schon unter der Presse, und ich will ehstens den ersten Bogen davon schicken. Das ist zugleich die Ursache, warum ich Ihnen jetzt nicht das Original schicken kann. Sie sollen meine Uebersetzung zugleich kritisiren, der ich verschiedene eigne Grillen beyzufügen gesonnen bin, die ich unterdessen gehascht habe, vorher aber mit Ihnen überlegen muß. Ich möchte närrisch werden, daß es nicht mündlich geschehen kann. Denn noch muß ich sechs Wochen hier bleiben, so ein vortheilhaftes Ansehn auch mein Proceß bey dem letzten Termin gewonnen hat. – Lassen Sie unterdessen fein die Schönheitslinie nicht aus Ihren Gedanken, und schreiben Sie mir ja alles, was Sie davon entdecken; schreiben Sie mir es aber so, daß ich es verstehe; denn von der Geometrie weiß ich jetzt weniger, als ich jemahls gewußt habe. Komme ich aber wieder nach Berlin, so sollen Sie erstaunen, wie sehr ich mich darauf legen will. Wir wollen alsdann thun, als ob gar keine schönen Wissenschaften mehr in der Welt wären. –

Leben Sie unterdessen wohl, mein lieber Moses, ich schreibe Ihnen mit nächstem viel mehr. Ihr Gedanke, daß derjenige, der es für die größte Rache hält, jemanden lasterhaft zu machen, eine starke Anlage zur <Seite 135:> Tugend haben müsse, klingt paradox, er ist aber wahr. Denn so ein Mensch muß lasterhaft zu seyn für das größte Unglück halten, und tugendhaft zu seyn für das größte Glück. Was kann ihn also noch abhalten, an seinem Glücke zu arbeiten? – (Es ist hier nichts weiter zu überlegen, mein lieber Nicolai; und ich muß Sie versichern, daß ich beynahe eben das dem Verfasser des Freygeists gesagt habe.) Leben Sie nochmahls wohl, liebster Freund; ich bin

ganz der Ihrige
Lessing.


  | oben |