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Friedrich Nicolai: Abhandlung vom Trauerspiele. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste. 1. Band, 1. Stück. Leipzig: Dyck 1757. S. 17-68. (Faksimile hier. Vgl. außerdem den Briefwechsel über das Trauerspiel, den Nicolai, Mendelssohn und Lessing 1756/1757 geführt haben.)

<Seite 17:>

II.

Abhandlung vom Trauerspiele.

Wir sind nicht eigentlich willens, eine vollständige Abhandlung über das Trauerspiel, oder eine Sammlung und ein Lehrgebäude der Regeln, die bey Verfertigung eines Trauerspiels beobachtet werden müssen, zu liefern. Diese Abhandlung ist theils, in Absicht auf den von uns angekündigten Preis, geschrieben, um unsere Meynungen von dem vornehmsten Endzwecke des Trauerspiels, und zugleich die Art, womit wir die eingesandten Stücke beurtheilen wollen, bekannt zu machen; theils um die Theorie des Trauerspiels von einer andern Seite zu zeigen, und verschiedene Theile davon, auf die unsere deutschen Trauerspieldichter, bisher unsers Erachtens nicht genug Acht gegeben haben, auf das neue einzuschärfen. Wir werden daher die Regeln, deren Nothwendigkeit und Gebrauch jedermann zugiebt, gar nicht, oder doch nur beyläufig anführen, und uns hingegen mehr über die Gegenstände ausbreiten, darüber die Kunstrichter entweder verschiedener Meynungen sind, oder deren Untersuchung gar vernachläßiget worden ist. Man kann also diese Abhandlung gewissermaßen als eine Beurtheilung der bisher angenommenen Lehrgebäude über das Trauerspiel ansehen; wir wollten aber nicht gern, daß man sie für eine ausdrückliche Widerlegung derselben ansähe. Wir wollen so wenig ein oder das andere Lehrgebäude widerlegen, als ein <Seite 18:> neues aufbauen. Wir haben vielmehr die Gedanken anderer Schriftsteller in die unsrigen eingeflochten, und sie so zu verbinden gesucht, daß dadurch die Lehre von dem Trauerspiel ein mehreres Licht bekommen möchte.

Aristoteles (*) erkläret das Trauerspiel folgendergestalt: »Die Nachahmung einer ernsthaften, vollständigen und eine Größe habenden Handlung, durch einen mit fremden Schmuck versehenen Ausdruck, dessen sämmtliche Theile aber besonders wirken, welche ferner nicht durch die Erzählung des Dichters sondern durch die Vorstellung der Handlung selbst, uns vermittelst des Schreckens und Mitleidens, von den Fehlern der vorgestellten Leidenschaften reiniget.« Den letzten Theil dieser Erklärung, welche den Zweck des Trauerspiels, uns durch Schrecken und Mitleiden von den Fehlern der vorgestellten Leidenschaften zu reinigen, bemerket, können wir nicht zugeben; dieser dem Trauerspiel zugeeignete Nutzen, scheint uns offenbar mit der Erfahrung zu streiten, und überdem den Schaden nach sich zu ziehen, daß unvorsichtige Trauerspieldichter dadurch verleitet werden können, ihres wahren Zwecks zu verfehlen, und sich begnügen zu lassen, eine kalte Moral auszuführen. Corneille (**) sahe aus eigner Erfahrung den Ungrund dieses Satzes sehr wohl ein, und hielt ihn daher für einen schönen Gedanken des Aristoteles, der aber schwerlich jemals zur Wirklichkeit kommen würde. Er behauptet dieserwegen, <Seite 19:> daß, so wie die Dichter überhaupt, also auch insbesondere der Trauerspieldichter bloß zum Vergnügen arbeite. In der Folge hingegen erkläret er sich über den Zweck des Trauerspiels etwas näher, und setzet ihn in die glückliche Erwegung des Mitleidens und der Furcht. Die Erklärung des Aristoteles saget, unsers Erachtens, zu viel, und setzet eine entfernte Folge die das Trauerspiel haben kann, unter die nothwendigen Eigenschaften desselben. Die Erklärung des Corneille hingegen scheint uns zu wenig zu sagen, und die Eigenschaften des Trauerspiels nicht völlig zu erschöpfen. Wir hoffen also zwischen diesen beyden großen Männern ein Mittel zu treffen, und die Eigenschaften des Trauerspiels genauer zu bestimmen, wann wir folgende Erklärung festsetzen: Das Trauerspiel ist die Nachahmung einer einzigen, ernsthaften, wichtigen und ganzen Handlung durch die dramatische Vorstellungen derselben; um dadurch heftige Leidenschaften in uns zu erregen.

Es ist jedermann bekannt, daß unser Geist die Unthätigkeit hasset, und die Beschäfftigung liebet; ein gehöriger Gebrauch unserer Kräfte ist jederzeit mit einer angenehmen Empfindung verknüpfet. Du Bos (*) ist mit den Folgen, die er aus diesem Satze gezogen hat, vielleicht zu freygebig gewesen, aber er wird dennoch, wann wir nicht irren, mit gehöriger Einschränkung den wahren Grund alles des Vergnügens, das wir aus den schönen Wissenschaften schöpfen, enthalten. Was ist aber wohl mehr ver- <Seite 20:> mögend uns in Bewegung zu setzen, als die Leidenschaften? Und ist nicht daher derjenige unsers Beyfalls gewiß, dem es gelinget uns zu rühren? Selbst alsdenn noch, wenn uns die Heftigkeit der Leidenschaften unangenehme Empfindungen verursachet, hat die Bewegung die sie mit sich führet noch Annehmlichkeiten für uns; der Zornige in der äußersten Hitze seiner Leidenschaft, der Betrübte, den die Last seines Schmerzes zu Boden drückt, findet Süssigkeiten in den schrecklichen Ausbrüchen seiner Gemüthsbewegung; die nächste Zuflucht des Unglücklichen ist das Unglück selbst; suchet ihm Trost zuzusprechen, er wird euch nicht hören, er wird viel lieber seinem Kummer nachhängen; wer ihm seinen Zorn, seinen Schmerz, seine Betrübniß, nehmen will, der ist sein Feind; gelingt es euch ja ihn zu trösten, so wird es geschehen, nicht wann ihr ihm die Gemüthsstille anpreiset, sondern wann ihr seiner Bewegung schmeichelt, wenn ihr ihm Hoffnung machet, daß er länger darinn verharren könne, wann er sie nur ein wenig mäßigen wollte. Woher kömmt dieses? Die Ausbrüche der heftigen Leidenschaften sind so schrecklich, daß wir uns nicht einen Augenblick bedenken können sie zu unterbrechen; es ist also die Stärke der Bewegung die er liebt, auch der schmerzlichen Empfindungen unerachtet, die wider das Angenehme der Leidenschaft streiten, in kurzem obsiegen, und die heftigsten Folgen hinterlassen. Eine Leidenschaft also die diese Folgen nicht hinterläßt, in welcher der Schmerz über das Vergnügen gerühret zu werden nicht obsieget, muß gänzlich angenehm seyn. Von dieser Art sind die Nachahmungen der Leiden- <Seite 21:> schaften, die das Trauerspiel hervorbringt; unser Geist wird gerühret, er empfindet auch Schmerz, aber ein Schmerz, der nicht wirklich sondern nur nachgeahmt ist, ist eben deßwegen nicht vermögend die Rührung, welche wirklich geschieht, zu überwältigen; das Unangenehme der Leidenschaft verschwindet also, und es bleibet uns nichts übrig als das Vergnügen gerührt zu werden, als das süße Zittern, das von der Bewegung der Leidenschaft hervorgebracht wird.

Die Erregung der Leidenschaften ist eine so sichtbare Wirkung des Trauerspiels, daß sie kein Kunstrichter geläugnet hat: Aristoteles bringt sie ausdrücklich mit in seine Erklärung; aber er setzet hinzu, daß die Leidenschaften, von welchen er das Schrecken und das Mitleiden besonders nennet, nur deßwegen erreget werden, damit wir dadurch von den Fehlern der vorgestellten Leidenschaften gereiniget werden möchten. Verschiedene Kunstrichter (*) haben geglaubet, Aristoteles fordere, daß uns das Trauerspiel von Schrecken und Mitleiden reinigen sollte, indem es uns mit diesen heftigen Leidenschaften so bekannt machte, daß wir sie nicht ferner fürchten dürfen. Dieß ist aber so wohl der Natur des Trauerspiels, welches die Erregung und nicht die Dämpfung der Leidenschaften zum Zweck hat, als auch der Meynung des Aristoteles offenbar zuwider, <Seite 22:> welcher nicht sagt, daß wir von Schrecken und Mitleiden, sondern durch die Erregung des Schreckens und Mitleidens, von den Fehlern der vorgestellten Leidenschaften gereiniget werden sollen; dadurch er also das Trauerspiel zu einer Schule der Tugend machet. Dieß ist es, was wir noch untersuchen müssen.

Man kann unmöglich behaupten, daß Aristoteles, welcher zuerst den Begriff des Trauerspiels von den Exempeln abstrahiret hat, nicht zuweilen etwas zufälliges für ein wesentliches Stück desselben angesehen haben sollte. Wir wissen es jetzt allzuwohl, daß der mit fremden Schmuck versehene Ausdruck, (oder die bey den Griechen gewöhnliche Declamation und Saltation) welchen er mit in seine Erklärung bringt, gar nicht zum Wesen des Trauerspiels gehöre. Eben so scheint es ihm mit dem Zweck des Trauerspiels gegangen zu seyn; er hat die Reinigung der Leidenschaften dafür angesehen, und hat diesen Satz in seine Erklärung gebracht, ob er gleich weder eine wesentliche Eigenschaft enthält, noch von der wesentlichen Eigenschaft, der Erregung der Leidenschaften, eine unmittelbare und allgemeine Folge ist (*). Uns dünket, daß seine Meynung aus der Beschaffenheit, der wirklichen Leidenschaften, und <Seite 23:> der nachgeahmten Leidenschaften, welche das Trauerspiel hervorbringt, sehr leicht zu widerlegen sey. Sollen wir von einer Leidenschaft abwendig gemacht, oder mit dem Aristoteles zu reden, davon gereiniget werden; so müssen uns die unangenehmen Empfindungen und Folgen, die sie hervorbringt, so lebhaft werden, daß sie das Vergnügen verdunkeln, das aus der Bewegung entsteht, von welcher eine jede heftige Leidenschaft begleitet ist. Nun ist aber, wie wir bereits angeführet haben, der Schmerz oder die unangenehme Empfindung, welche die theatralischen Leidenschaften erregen, nur scheinbar und nachgeahmt, die Rührung hingegen geschieht, wie niemand läugnen wird, wirklich, folglich wird sie jederzeit die lebhafteste Empfindung unter beyden bleiben. Sollte sie von einem scheinbaren Schmerze überwunden werden, sie, die der wirkliche Schmerz einer wirklichen Leidenschaft, sehr öfters nicht zu überwinden vermögend ist? Was kann also aus diesem Streit eines scheinbaren Schmerzes und einer wirklichen Rührung entstehen? Das, was Corneille gesagt hat: ein schöner Gedanke – – der aber selten zur Wirklichkeit kömmt. Wir können uns mit eben diesem Corneille kühn auf die Erfahrung eines jeden berufen, ob er jemals durch eine tragische Vorstellung zu einer nachdenkenden Furcht sey gebracht worden, dadurch er von der Leidenschaft, die das vorgestellte Unglück verursachet hat, hätte können gereiniget werden. Herr Curtius (*) wendet zwar ein, daß das Theater nutzbar genug sey, wann auch nur ein jedes Stück eine einzige große tugend- <Seite 24:> hafte Handlung hervorbringe; Ja ohnstreitig nutzbar genug – aber ist dieser Nutzen allgemein genug, daß man ihn als die Absicht des Trauerspiels angeben, oder als eine unmittelbare und nothwendige Folge der Absicht, in die Erklärung bringen darf?

Man glaube nicht, daß, weil der Zuschauer den lasterhaften Personen eines Stückes abgeneigt und den tugendhaften Personen geneigt ist, er deßwegen die Tugenden liebe und die Laster hasse. Die Zuneigung gegen die tugendhaften und die Abneigung von den lasterhaften Personen des Trauerspiels, ist nichts anders, als eine Folge unserer natürlichen Gerechtigkeit, deren sich der Dichter bedienet, seine Handlung durch genau gezeichnete Charaktere lebhafter zu machen, und seine Entwicklung vorzubereiten. Die Sitten, und folglich die Charaktere sind, wie Aristoteles ausdrücklich behauptet, nicht einmal in dem Trauerspiele unentbehrlich (obgleich der anständigste Zierath desselben). »Nicht die Sitten, sagt er, (*) sind es eigentlich, welche das Trauerspiel nachahmet, sondern sie werden um der Handlung willen eingeführet. Die Begebenheiten und die Fabel sind folglich der Endzweck des Trauerspiels; der Endzweck ist aber in allen Dingen das wichtigste. So kann kein Trauerspiel ohne Handlung aber wohl ohne Sitten seyn.« Dieß ist eine von den merkwürdigen Stellen, deren sich in des Aristoteles Dichtkunst verschiedene finden, welche zeigen, daß er bey seiner Erklärung des <Seite 25:> Trauerspiels nur zu geschwinde von der Erregung der Leidenschaften auf die Reinigung der Leidenschaften geschlossen habe, und daß er aus der Natur der Sache genugsam gemerket habe, daß die Erregung der Leidenschaften die wahre Absicht des Trauerspiels sey. Die bloße Handlung, kann Schrecken, Mitleiden und andere Leidenschaften erregen, aber die Verbesserung der Leidenschaften kann ohne Sitten und Charaktere nicht geschehen. Herr Curtius hat wohl eingesehen, daß Aristoteles hier seiner Erklärung widerspreche, und daher in seiner Anmerkung über diese Stelle, lieber zugegeben, daß Aristoteles aus dem vorhergehenden einen falschen Schluß ziehe, als daß er von dem einmal angenommenen System abgehen wollen. Ohne hier zu beweisen, daß der Satz des Aristoteles aus dem vorigen ganz natürlich folge, wozu hier der Ort nicht ist, ist es uns genug, da es für sich genommen, und nach dem eignen Geständniß des Herrn Curtius richtig ist, daß bloße Handlungen ohne Sitten und Charaktere, Schrecken, Mitleiden und andere Leidenschaften erregen können. Da nun aber noch niemand die Charaktere zum Hauptwerk des Trauerspiels gemacht, ja Herr Curtius in der folgenden Anmerkung selbst mit dem Aristoteles zugiebt, daß ein Trauerspiel ohne Charaktere (*) seyn könne, wie kann man denn also, einem Stücke das Schrecken und Mitleiden er- <Seite 26:> regen kann, dabey aber aus Mangel der Charaktere, an die Verbesserung der Leidenschaften nicht zu gedenken ist, den Namen eines Trauerspiels absprechen, den man ihm doch nach der Erklärung des Aristoteles absprechen müßte?

Wir wollen dieß mit einem Beyspiele erläutern. In dem Oedipus des Sophokles ist der Charakter des Oedipus der einzige; gesetzt also, der Dichter hätte denselben nicht heftig, argwöhnisch und neugierig gebildet, und wenn die Entwicklung nicht aus der letztern Eigenschaft desselben hergeleitet wäre, so würde diesem Trauerspiele ohnstreitig ein Grad der Schönheit entgehen, es würde in demselben kein Charakter seyn, und, der ohnedem schon sehr schwache Schein, daß wir durch dasselbe von Jachzorn, Neugier oder andern Leidenschaften könnten gereiniget werden, würde gänzlich wegfallen. Dem ohngeachtet aber würde die ganze Handlung mit ihren Wirkungen in ihrem vorigen Zustande bleiben; sollte sich aber wohl alsdenn jemand unterstehen, diesem Meisterstücke des Alterthums, den Namen eines Trauerspiels bloß deswegen abzusprechen, weil es offenbar wäre, daß die Erregung der Leidenschaften die einzige Wirkung desselben seyn könnte?

Wir suchen durch das, was wir bisher behauptet haben, gar nicht, das Trauerspiel zu erniedrigen, sondern wir suchen nur, es aus seiner wahren Quelle <Seite 27:> herzuleiten, und die wahre Absicht desselben anzuzeigen. Wenn es ausgemacht ist, daß die Erregung der Leidenschaften der wahre und einzige Zweck des Trauerspiels ist, so ist dieselbe auch dasjenige, welches der Dichter seine hauptsächlichste Sorge seyn lassen muß, und dasjenige, wornach der Kunstrichter den Werth des Trauerspiels vornehmlich zu beurtheilen hat, weil sich alle Eigenschaften desselben aus diesem Grunde auf die natürlichste Weise müssen herleiten lassen, wie wir in kurzem weiter sehen werden.

Doch folget hieraus nicht, daß das Trauerspiel gar nichts zur Verbesserung der Leidenschaften beytragen, und also gar keinen moralischen Nutzen haben könne; man muß nur diesen entfernten Nutzen des Trauerspiels nicht zu weit ausdehnen und zum Hauptzwecke desselben machen. Wir wollen uns, um allen Mißverstand zu vermeiden, etwas näher erklären, in wie fern, unsers Erachtens, das Trauerspiel der Sittenlehre beförderlich seyn könne.

Das Trauerspiel darf nicht wider die Sittenlehre streiten; man sagt zwar wohl, daß das Theater seine eigne Sittlichkeit habe, welche von der Sittlichkeit des gemeinen Lebens unterschieden sey (*), aber diese theatralische Sittlichkeit geht nur gewisse einzelne Fälle an, da man, um theatralische Vollkommenheiten zu erreichen, Handlungen vorgehen läßt, welche entweder aus Vorurtheilen entspringen, oder von der Hitze der Leidenschaften gerechtfertiget <Seite 28:> zu werden scheinen, und freylich nach den Gesetzen der allgemeinen Sittenlehre unerlaubt sind; es muß aber auch der Dichter die größte Behutsamkeit gebrauchen, daß diese scheinbare Sittlichkeit nicht offenbar mit der wirklichen Sittlichkeit streite; er muß dergleichen unerlaubte Handlungen auf einer solchen Seite vorstellen, daß sie entweder aus guten aber unrecht angewandten Bewegungsgründen fließen, oder durch die starke Bewegung, worinn sich die handelnde Person befindet, entschuldiget werden können, daß wir also die Personen, die diese Handlungen begehen, eher bedauren, als sie uns zum Muster vorstellen mögen; sonst würde sein Trauerspiel nicht nur schädlich seyn, indem es unanständige Grundsätze zu rechtfertigen schiene, sondern er würde auch seines vornehmsten Zwecks, nämlich der Rührung, verfehlen, indem die Zuschauer sich beständig wider ihn empören, und an Handlungen die wider die Grundsätze, welche ihnen von der Natur eingepflanzt sind, stritten, keinen Antheil nehmen würden. Wann es also gleich nicht jederzeit zu seinem Zweck gehöret, die Tugend als belohnt und das Laster als bestraft vorzustellen; so wird ihn doch selbst der eigentliche Zweck des Trauerspiels, die Erregung der Leidenschaften darauf leiten, den Tugendhaften in gewisse Masse als liebenswürdig, und den Lasterhaften als verabscheuenswürdig vorzustellen, ohne welches wir entweder keinen Antheil an den Handlungen der spielenden Personen nehmen würden, oder durch den unerträglichen Widerspruch des Guten und des Bösen, in dem genommenen Antheile, und in der Rührung die wir zu empfinden hofften, alle Augenblicke <Seite 29:> würden gestöret werden. Wenn also das Trauerspiel mit den Gesetzen der Sittenlehre nicht streitet, wenn es vielmehr öftere Gelegenheit hat, die Folgen dieser Gesetze uns in lebendigen Beyspielen vorzustellen, so kann es dienen, die Lehren der Tugend in uns lebhafter zu machen, so kann endlich unser Herz, wenn es zu wiederholtenmalen durch Beyspiele der Tugend vergnüget, und über lasterhafte Charaktere unwillig geworden ist, endlich eine Neigung bekommen, die Gebote der Sittenlehre leichter anzunehmen; da nun diese Wirkung des Trauerspiels nach der Verschiedenheit der Personen, auf die es wirket, verschieden ist, so kann es geschehen, daß dieselbe bey einem empfindlichen und wohlgearteten Herzen merklich wird, und wenn durch andere Umstände v[o]rher gewisse Bewegungen in uns verursachet werden, so kann es geschehen, daß die tragischen Beyspiele gleichsam das Uebergewicht geben, und daß auf diese Art ein wirklicher tugendhafter Entschluß hervorgebracht wird, den sonst das Trauerspiel allein und unmittelbar schwerlich jemals hervorbringen wird; aber eben deswegen weil das Trauerspiel diese Wirkung für sich allein nicht hervorbringen kann, so ist es offenbar, daß sie nicht der Zweck des Trauerspiels seyn könne.

Es ist Zeit, daß wir den Faden unserer Abhandlung wieder ergreifen; weil das Trauerspiel die Leidenschaften zu erregen suchet, so ist dasjenige, was dieser Absicht am meisten beförderlich, ja dazu unentbehrlich ist, das wichtigste Stück desselben, und dieses ist die Handlung, welches wesentliche Stück des Trauerspiels wir nun näher betrachten wollen.

<Seite 30:>

Die vornehmste Eigenschaft, welche zu einer tragischen Handlung erfodert wird, ist ihre tragische Größe. Wir können nicht, wie die meisten Kunstrichter gethan haben, nur diejenigen Handlungen für tragisch groß halten, welche von erhabenen Personen verrichtet werden. Eine Handlung bleibet eben dieselbe, es mag sie verrichten wer es sey, ob sie gleich durch den Glanz der handelnden Person in ein neues Licht gesetzet werden kann. Die Größe einer tragischen Handlung muß also in ihr selbst liegen, und sie wird alsdenn tragisch groß seyn, wenn sie geschickt ist, heftige Leidenschaften zu erregen. Wenn sie dieses vermag, so ist es nicht nur offenbar, daß sie zum Trauerspiel geschickt ist, sondern es folget auch natürlich, daß sie keine von den schlechten und geringen Handlungen seyn könne, die keine merkliche Wirkungen haben, indem der Held eines Trauerspiels niemals eine geringe und gemeine Person ist, sondern entweder durch seinen Stand, oder durch seine Gesinnungen, oder durch sein Unglück, wichtig und interessirend wird. Es haben verschiedene unter den Deutschen, die sich unterfangen haben, Trauerspiele zu machen, in denen ein bürgerliches Interesse ist und bürgerliche Personen auftreten, wider diese Regel gesündiget; zuweilen sind ihre Handlungen nicht geschickt heftige Leidenschaften zu erregen, sondern nur bloß Moral zu lehren; zuweilen sind sie gar an sich komisch, oder mit komischen Nebenhandlungen untermischet. Wider eben diese Regel fehlen diejenigen, die zur unrechten Zeit die Liebe in ihre Trauerspiele bringen; eine tragische Handlung muß durchaus tragisch seyn; dasjenige, das die Leidenschaften, <Seite 31:> die sie erregen soll, schwächet, ist eben so schlecht, als dasjenige, das gar nicht geschickt ist, heftige Leidenschaften in uns hervorzubringen.

Es ist ferner nöthig, daß eine tragische Handlung ununterbrochen fortdaure, und es bedarf keines Beweises, daß wenn eine Handlung unterbrochen werde, auch zugleich unsere Aufmerksamkeit und folglich der Antheil, den wir an dem Trauerspiele nehmen, unterbrochen werde; die Verwirrung wird um so viel größer, weil unsere Aufmerksamkeit sich zugleich auf die Handlung, welche die Haupthandlung unterbricht, wendet, und den Antheil den wir an den Handlungen nehmen, zerstreuet und eben dadurch schwächet.

Die Handlung muß weiter einfach seyn; wir nehmen hier das Wort einfach nicht in dem Verstande in dem Aristoteles einfachen Fabeln zusammengesetzten Fabeln entgegen setzet, sondern wir setzen das einfache dem verwickelten entgegen, und verstehen unter einer einfachen Handlung, eine solche die mit wenig Nebenhandlungen vermischet ist, so wie wir eine Handlung verwickelt nennen, wenn sie mit so vielen Zwischenhandlungen vermischet ist, daß dadurch der Lauf der Haupthandlung undeutlich und verwirrt gemacht wird. Ob es gleich nicht allemal thulich seyn möchte, der Simplicität der Griechen zu folgen, deren Handlungen wenige oder fast gar keine Episoden haben, so wird doch allemal eine Handlung um desto schöner seyn, je einfacher sie ist; man kann jederzeit schließen, daß eine Handlung, die mit vielen Zwischenfabeln vermischet <Seite 32:> ist, von sich selbst matt seyn müsse; denn wenn sie in sich selbst reich genug ist, um fünf Aufzüge zu erfüllen, so bedarf sie keiner fremden Hülfsmittel.

Wenn also endlich die Handlung eines Trauerspiels so wohl von fremden Handlungen ununterbrochen fortdauert, als auch von ihren eigenen Nebenhandlungen nicht verwirrt oder undeutlich gemacht wird, so wird sie die Eigenschaft haben, die die Kunstrichter schon längstens unter dem Namen der Einheit anbefohlen haben; eine Eigenschaft die einem jeden dramatischen Stücke, das vollkommen schön seyn soll, unentbehrlich ist; denn an einem dramatischen Stücke, dem die Einheit der Handlung fehlet, können zwar wohl einzelne Stellen, aber unmögliche das Ganze, Beyfall verdienen.

Es wird hier der bequemste Ort seyn, von den beyden andern bekannten Einheiten der Zeit und des Orts ein Wort zu sagen. Es ist ganz ausgemacht, daß die Regeln, durch welche diese zwey Einheiten anbefohlen werden, guten Grund haben, aber es haben sie viele Kunstrichter zuweit ausgedehnet, und indem sie diese Regeln allzugenau haben befolget wissen wollen, haben sie nicht allein den Dichtern ihre Arbeit sehr schwer gemacht, sondern auch wirkliche Schönheiten verhindert, und zu wirklichen Fehlern Anlaß gegeben. Wie manche Geschichte, die wahrhaftig tragisch sind, sind unbearbeitet geblieben, weil sie sich mit der genauen Strenge dieser Regeln nicht vertragen. Wie mancher Dichter hat Handlungen frostig erzählt, die er, wenn er den Ort hätte ver- <Seite 33:> ändern wollen, hätte rührend vorstellen können! Gleichwohl wenn man der großen Strenge folgen wollte, so würden die dramatischen Stücke, in denen die Einheiten der Zeit und des Orts mit großer Aengstlichkeit beobachtet sind, nichts destoweniger manches Unwahrscheinliche haben. Ist es nicht widersinnisch, daß ein Frauenzimmer auf der Straße mit ihrem Liebhaber geheime Anschläge macht; daß Augustus an eben dem Orte, wo man sich wider ihn verschworen hat, mit seinen Lieblingen Rath hält; daß ein sterbender Held auf das Theater getragen wird, da es doch natürlicher wäre, daß die Gesunden in sein Zimmer gingen u. s. w. Man sieht also leicht, daß, wenn man sich für kleinen Fehlern hüten und die Natur allzugenau nachahmen wollte, man leicht in wichtigere Fehler fallen könnte.

Die einzige Pflicht des Dichters wird also nur seyn, sich der Einheit der Zeit und des Orts, so viel möglich, zu nähern, und wenn er um größerer Schönheiten willen davon abweichen muß, es so einzurichten, daß die Abweichung dem Zuschauer nicht sehr merklich werde. Hierzu wird nöthig seyn, daß er die Zeit und den Ort nicht allzugenau bestimme: Es werden sehr wenige Handlungen von einer gewissen Größe in einer Zeit von zwo oder drey Stunden, so lange ein Schauspiel zu währen pfleget, wirklich vorgehen können; die Dichter haben sich also schon längst die Freyheit genommen, sich einer scheinbaren Zeit zu gebrauchen, oder vorauszusetzen, daß die Handlung eine längere Zeit, als die wirkliche Zeit der Vorstellung daure. Wir brauchen uns gar <Seite 34:> nicht zu zanken, ob Aristoteles diese Zeit auf zwölf oder auf vier und zwanzig Stunden auszudehnen erlaube; Aristoteles will weiter nichts, als daß man eine Dauer der Zeit wählen soll, die dem Zuschauer nicht anstößig ist. Es wird also unerträglich und lächerlich bleiben, wenn ein Held im ersten Aufzuge ein Jüngling, und in dem letzten ein Greis ist; aber es wird im Nothfall ganz wohl angehen, daß uns der Dichter eine Handlung vorstellet, als wenn sie in einer kurzen Zeit vorginge, wenn man gleich bey einer pünktlichen Untersuchung finden sollte, daß dazu wenigstens ein oder zween Tage erfodert würden. Läßt er aber z. B. von einer Sache, die im zweyten Aufzuge vorgegangen ist, im vierten Aufzuge sagen, daß sie vor zween Tagen geschehen sey, so wird er sich eben durch diese Bestimmung, seines Vorrechts die Einheit der Zeit auszudehnen, berauben, er wird uns verwirren, wir werden nachdenken, daß seit dem Zeitpunkt, da diese Handlung geschehen ist, nicht zween Tage vergangen sind, und es wird uns verdrießen, daß er uns etwas unmögliches habe einbilden wollen. Eben also ist es auch mit der Einheit des Orts; es wird fast keine tragische Handlung gänzlich an einem Orte vorgehen können: man kann also die Handlungen, die auf dem Platze, wo das Schauspiel sich angefangen hat, natürlicher Weise nicht vorgehen können, auf viererley Weise den Zuschauern zu wissen thun. Entweder man läßt

1) solche Handlungen erzählen, oder

2) man suchet sie durch ein oder anderes Mittel auf den Ort des Schauplatzes zu bringen, oder

<Seite 35:>

3) man verändert den Schauplatz, und wenn man dieses nicht wagen will oder wagen darf; so läßt man

4) den Ort unbestimmt.

Alle diese vier Arten werden gebraucht und können nützlich seyn: die erste ist ohnstreitig die leichteste, aber auch ohnstreitig sehr öfters die schlechteste; wenn eine Handlung an sich tragisch und rührend ist, so ist es jederzeit besser sie vorzustellen als zu erzählen. Bloß die allzuabscheulichen und die allzuwenig tragischen Handlungen können besser erzählet als vorgestellet werden; wie sehr die französischen Tragödienschreiber, aus einer übertriebenen Delicatesse, in diesem Punkt gefehlet haben, ist bekannt genug. Die zweyte Art wird gleichfalls sehr öfters gebraucht, und ist gemeiniglich mit einer Unwahrscheinlichkeit, über die aber der Zuschauer gern hinweg sieht, verknüpfet, z. B. wenn ein sterbender Held auf das Theater gebracht wird, da es doch natürlicher wäre, daß sich diejenigen, mit denen er noch reden will, in sein Zimmer begäben. Die dritte Art wird von manchen als ein unvergeblicher Fehler, von andern aber mit gutem Grunde als eine zu Beförderung größrer Schönheiten gar wohl erlaubte Freyheit angesehen. Wir wollen hierbey dreyerley bemerken: 1) Daß man sich dieser Freyheit (wie aller andern Freyheiten) nicht anders als im höchsten Nothfalle bedienen müsse. Es zeiget entweder eine große Unwissenheit in der Art einen Plan zu machen, oder wenigstens eine sehr große Nachläßigkeit an, wenn man, nach der übeln Gewohnheit der meisten Engländer, den Schauplatz ohne Noth alle Augenblicke verän- <Seite 36:> dern läßt. 2) Daß man nicht allzuweit entlegene Oerter auf einander folgen lasse, so wie z. B. in einem gewissen Lustspiel von Cibber, der erste Aufzug in Spanien und die übrigen in England vorgehen; solche Veränderungen sind unerträglich, und zeigen gleichfalls viel Armuth und Nachläßigkeit im Plane an. 3) Weil der Schauplatz hauptsächlich deswegen verändert wird, damit der Zuschauer nicht verwirret werde, sondern gewiß wisse, wo sich die handelnden Personen befinden, so ist es unumgänglich nöthig, daß die Veränderung mit solchen Kennzeichen begleitet sey, daß der Zuschauer augenblicklich verstehe, wo der Schauplatz sey. Wenn sich also z. B. in dem zweyten Aufzuge von Regnards Demokrit, der Schauplatz ändert, so wird jedermann gleich sehen, daß er den königlichen Hof vorstelle. Wenn aber im Kaufmann von London die Scene bald in Thorowgoods bald in Milwoods Hause ist, so wird der Zuschauer zwar wohl sehen, daß die Scene verändert wird, aber er wird nicht wissen, wessen Haus vorgestellet werde, wenn er es nicht etwa aus dem gedruckten Buche weis. Außer dieser Vorsicht würde die Verwirrung noch größer werden, als wenn man lediglich der vierten Art folgte, welche man auf zweyerley Weise gebrauchen kann, wenn man entweder den Ort gänzlich unbestimmt läßt, oder wenn auch gleich im Anfang der Ort des Schauplatzes bestimmt worden, dennoch Dinge, die, wenn man es genau untersuchen wollte, auf demselben nicht vorgehen können, vorgehen läßt, ohne anzuzeigen, daß der Schauplatz verändert werde. Diese Art die von allen Schriftstellern öfter gebrauchet <Seite 37:> worden ist, als man vielleicht denken sollte, hat ohnstreitig viel Vorzüge, und wenn es nicht einige Umstände nothwendig machen, daß der Zuschauer genau wissen muß, wo sich die handelnden Personen befinden, so ist sie jederzeit der dritten Art vorzuziehen. Es ist nicht zu läugnen, daß das Verändern der Scenen in Trauer- und Lustspielen allemal, wenigstens auf den Augenblick, da es geschieht, anstössig sey, und es ist gar unerträglich, wenn, wie auf einigen unserer schlecht eingerichteten Theater geschieht, bey jeder Veränderung der Vorhang zugezogen wird. Wenn also keine Verwirrung zu befürchten ist, warum soll man dem Zuschauer nicht die unangenehme Erinnerung sparen, daß die theatralischen Palläste und Gärten nichts als bemahlte Leinwand sind, die von Lichtputzern regieret werden. Er wird es dem Dichter gewiß nicht übel nehmen, daß er sich der Freyheit, die er sich nimmt, so bescheiden und unvermerkt bedienet hat, und wer nicht recht genau Acht hat, wird wohl gar glauben, die Einheit des Ortes sey recht kunstmäßig beobachtet worden. Im übrigen würde es überflüßig seyn, weitläuftig zu erörtern, an welchen Orten diese und andere Freyheiten von solcher Art erlaubet sind. Ein jeder Dichter wird leicht beurtheilen können, wo einige von seinen Pflichten in Streit zu kommen scheinen, und welche den Vorzug haben muß. So viel aber kann er gewiß seyn, daß wenn er den wichtigen Zweck der Erregung der Leidenschaften nie aus den Augen läßt, der Zuschauer ihn nicht über kleine Freyheiten chicaniren werde, die ihn in den Stand setzen, die Leidenschaften in einem höhern Grad zu erregen.

<Seite 38:>

Wenn wir untersuchen, welche Leidenschaften vorzüglich geschickt sind, unser Herz in Bewegung zu setzen, so werden wir finden, daß nichts vermögend ist, auf eine mächtigere Art auf uns zu wirken, als das Schrecken und Mitleiden, welches wir bey dem unglücklichen Schicksal solcher Personen, die es nicht verdienen, empfinden. Eine andere Art der heftigsten Gemüthsbewegungen ist die Bewunderung, die enthusiastische Hochachtung, welche uns durch Thaten, die so groß sind, daß sie uns bey dem ersten Anblick unglaublich scheinen, abgezwungen wird. Wenn wir auch die Trauerspiele der berühmtesten alten und neuen Meister betrachten, so werden wir finden, daß der Zweck eines jeden tragischen Schriftstellers gewesen ist, entweder Schrecken und Mitleiden oder Bewunderung, oder beyderley in uns zu erregen. Diese Anmerkung führet uns ganz natürlich auf eine Eintheilung der Trauerspiele, die uns bey der Beurtheilung der Eigenschaften derselben nicht undienlich seyn wird. Wir werden also Trauerspiele von drey Arten haben:

1) Trauerspiel, welche bloß Schrecken und Mitleiden erregen; diese wollen wir, bis wir eine bessere Benennung finden, rührende Trauerspiele nennen. Hieher gehören so wohl alle bürgerlichen Trauerspiele, als diejenigen, worinnen ein bloß bürgerliches Interesse herrschet. z. B. Medea, Thyest, Merope, Zaire.

2) Trauerspiele, welche, durch Beyhülfe des Schreckens und Mitleidens, Bewunde- <Seite 39:> rung über den Heldenmuth der vorgestellten Personen zu erregen suchen; diese nennen wir heroische Trauerspiele, dergleichen sind z. B. Cato, Brutus u. a.

3) Trauerspiele, deren Zweck ist Schrecken und Mitleiden zu erregen, welches aber mit der Bewunderung gewisser Charaktere vergesellschaftet ist, und dadurch vermehret wird; dieses sind vermischte Trauerspiele. z. B. Iphigenia in Aulis, der Graf von Essex, Athalia.

Man möchte vielleicht denken daß es noch eine vierte Gattung geben könne, nämlich: Heroische Trauerspiele, welche, ohne Beyhülfe des Schreckens und Mitleidens, Bewunderung erregen. Wir glauben aber, daß eine solche Gattung, wo nicht unmöglich, dennoch sehr schwer auszuführen, und deswegen gar nicht anzurathen sey. Man wird sich schwerlich einen Held, als einen Held, besser vorstellen können, als im Unglück. Wollte man aber, daß ein heroisches Trauerspiel gar kein Schrecken und Mitleiden erregen sollte, so müßte sich der Held in gänzlich von Unglück befreyten Umständen befinden, und in diesen Umständen kann es sehr leicht seyn, daß sich ein großer Mann lobenswürdig und vortrefflich zeiget, aber er wird sich schwerlich bewundernswürdig zeigen können, und zwar in einem so hohen Grade, daß die Bewunderung zu einer Leidenschaft wird, die sich durch ein Trauerspiel hindurch unterhalten und mit jedem Auftritte wachsen kann. Der Canut des sel. Herrn P. Schlegels könnte ein Bey- <Seite 40:> spiel dieser Gattung seyn, aber wo wir nicht irren, ein mißgerathenes Beyspiel; die Güte des Canut ist ohnstreitig vortrefflich, aber sie ist nicht so bewundernswürdig; sie trifft gleichsam die schwache Seite unsers Herzens, daß wir daher, ob wir gleich nicht kalt bleiben, dennoch nur erwärmet, und nicht, wie die Wirkung des Trauerspiels seyn sollte, erhitzet werden. Wir empfinden Wohlgefallen, aber nicht Bewunderung. Es soll unten an einem bequemern Orte gezeiget werden, daß es dem Dichter sehr leicht gewesen wäre, wenn er den Canut unglücklich vorstellen wollen, Schrecken und Mitleiden zu erregen, eben dadurch seine ganze Handlung lebhafter und wirksamer zu machen, und alle löbliche Neigungen seines Helden zu tragischen Tugenden zu erheben. Gleichwohl sahe er die Unentbehrlichkeit des Schreckens und Mitleidens so wohl ein, daß er auch seinen Knoten, durch einen Schein von Gefahr, die er dem Canut zustoßen läßt, knüpfte, obgleich diese Gefahr, die fast in dem Augenblicke, da sie entsteht, wieder zerstreuet wird, weder Schrecken noch Mitleiden erreget; indem, wie schon Aristoteles bemerket hat, ein nicht vollbrachtes Verbrechen oder Unglück keine Leidenschaften erregen kann, und eben deswegen keine tragische Handlung ist.

So wie wir, nach der zweyfachen Art der Größe einer tragischen Handlung, die Trauerspiele eingetheilet haben, so werden uns die übrigen Eigenschaften, die Dauer, die Einfalt, und die Einheit, bey der Art, den Plan eines Trauerspiels anzuordnen und zu beurtheilen, zu statten kommen. Man muß hier- <Seite 41:> bey bekanntermaßen auf drey Stücke Acht geben: 1) Auf die Erklärung des Vorwurfs; 2) auf die Knüpfung des Knotens; 3) auf die Verwicklung und Auflösung desselben. Diese drey Stücke sind so genau mit einander verbunden, daß sie sich beständig auf einander beziehen, und jedes dem andern behülflich seyn muß. Von der Erklärung des Vorwurfs wird hauptsächlich gefodert, daß sie natürlich und deutlich sey; der Dichter muß voraussetzen, daß der Zuschauer so wohl von der Handlung, welche vorgestellet werden soll, als von den Begebenheiten, welche vor der Handlung vorhergegangen sind, gar nichts wisse. Es ist also nöthig, daß man ihm alles dieses gleich im Anfang zu wissen thue; aber dieß muß auf eine Art geschehen, daß es nicht scheine als wolle der Dichter wovon Nachricht geben, sondern als wären die handelnden Personen im Begriff, eine gewisse Handlung vorzunehmen. Es ist also allemal kalt, wenn ein Held seinem Vertrauten erzählet, was derselbe schon lange wissen müßte, nur damit die Zuschauer auch etwas davon erfahren. Hingegen ist es vortrefflich, wenn selbst die Erklärung des Vorwurfs schon ein Stück der Handlung, oder eine unmittelbare Vorbereitung zu derselben ist. Die Erklärung des Vorwurfs in dem Trauerspiel Alzire, ist ein Meisterstück der Einfalt und Deutlichkeit. Alvarez giebt seinem Sohne, den er eben zum Nachfolger in der Statthalterschaft erhalten hat, den weisen Rath, den Wilden nicht grausam und stolz zu begegnen, sondern vielmehr an dem frohen Tage seines Regierungsantritts die Sklaven los zu geben, die noch in Ketten lägen, und offenbaret damit zugleich seinen <Seite 42:> sanftmüthigen Charakter. Guzmann schlägt ihm dieses mit einer solchen Art ab, die seinen stolzen und unbeugsamen Charakter verräth, den Charakter, der den Grund der Verwicklung des ganzen Stückes in sich enthält. Alvarez führet zur Rechtfertigung seines Verlangens an, daß er einem Wilden das Leben schuldig sey, wodurch die Person Zamors vorbereitet wird; Guzmann gewähret endlich seine Bitte, und macht dadurch wahrscheinlich, daß Zamor im Anfange des zweyten Aufzuges erscheint, und weil dieser geraume Zeit in einem dunkeln Kerker gelegen hat, so ist es ganz natürlich, daß er sich bey seinen befreyten Mitgefangenen erkundiget, wo er sich befinde, und denselben zugleich nach einer so langen Abwesenheit sein gehabtes Schicksal erzählet, welche Erzählung nicht von der Art der matten Erzählungen an Vertraute, ist, weil sie rühret, intereßiret, und die ganze Handlung in ein neues Licht setzet.

Mit der Verwicklung ist es eben so beschaffen, als mit der Erklärung und Vorbereitung des Vorwurfs; sie muß die Auflösung eben so nach und nach vorbereiten und zur Vollkommenheit bringen, als sie selbst durch die Erklärungen und Vorbereitungen in den ersten Aufzügen veranlasset wird. Jedoch wird dazu mehrere Kunst erfodert; die Handlung muß, nachdem das, was, um sie zu verstehen, nöthig ist, erkläret worden ist, unvermerkt angesponnen werden, und indem es scheint als ob sie in kurzem zu Ende gehen werde, erheben sich Schwierigkeiten, Gefahren, Glücksänderungen, welche die Handlung unvermerkt bis <Seite 43:> auf einen hohen Grad verwickeln, und den Zuschauer ungewiß machen, wie sie ausschlagen werde; bis sich endlich durch eine Handlung, die aus der Haupthandlung natürlich fließt, die verworrenen Umstände zu dem Hauptzwecke des Trauerspiels auflösen, und zugleich das bisher ungewisse Schicksal des Helden und der vornehmsten Personen bestimmt wird. Brumoy (*) hat sehr gründlich bemerkt, daß die Trauerspiele, in Absicht auf die Auflösung, von viererley Art seyn können:

1) Wenn der bereits unglückliche Held nach und nach in das äußerste Unglück verfällt: In diesem Fall wird der Knoten geknüpft durch verschiedene Umstände, welche Hoffnung machen, daß er sich aus demselben reißen werde. Die Auflösung hingegen zerstreuet alle Hoffnung, und stürzet ihn, entweder stuffenweise oder plötzlich in das äußerste Unglück, bey dem alle Hoffnung der Errettung verschwindet.

2) Wenn ein glücklicher Mensch unglücklich werden soll, so fängt sich die Verwicklung an, wenn die Mittel, die ihn in seinem Glück befestigen sollten, anfangen eine widrige Wirkung zu zeigen, und die Entwicklung ist da, wenn diese widrige Wirkung vollkommen ist.

3) Wenn eine unglückliche Person glücklich werden soll, so geschieht ebenfalls die Knüpfung des Knotens, durch eine Reihe von Begebenheiten, die ganz anders ausschlagen, als es anfänglich schiene, daß sie ausschlagen <Seite 44:> müßten, und die Auflösung ist da, wenn der glückliche Ausgang, den sie haben sollten, wirklich vollendet ist.

4) Wenn zu gleicher Zeit, der Schuldige gestraft, und der Unschuldige errettet werden soll, so wird in der Verwicklung so wohl als in der Entwicklung, durch eine und ebendieselbe Handlung, die zweyfache Wirkung hervorgebracht, die in den beyden vorigen Arten vorgekommen ist.

Diese vier Arten enthalten alles besondere, was bey der Beurtheilung einer jeden Verwicklung vorkommen kann: Wenn wir aber die Verwicklung und Auflösung überhaupt erklären wollen, so wird die Lehre davon, ohne sich in die spitzfindigen Unterscheidungen der Ausleger des Aristoteles einzulassen, gar leicht in einen einzigen Satz gebracht werden können: Alle Handlungen, die vor der Auflösung hergehen, sind gewissermaßen Mittel dazu; kann uns also der Dichter die Zwecke dieser Mittel verbergen, so hat er die Handlung auf eine künstliche Art verwickelt, folglich so lange der Zuschauer über den Zweck des Dichters und den Ausgang der Handlung ungewiß bleibt, so dauert die Verwicklung, und wenn diese Ungewißheit auf einen so hohen Grad steiget, daß es scheint, als würde die Handlung einen Ausgang haben, der dem Wunsche des Zuschauers gerade entgegen ist, so ist der Knoten geknüpft. Sobald sich hingegen die Handlung auf eine Seite neigt, die dem Zuschauer den wahren Ausgang der Handlung vermuthen läßt, so bald fängt die Auflö- <Seite 45:> sung an, und so bald der Ausgang gewiß ist, so bald der Zuschauer einsieht, wohin alle vorhergegangene Handlungen gezielet haben, oder mit andern Worten, wenn er deutlich erkennet, was alle vorhergegangene Handlungen als Mittel für Zwecke gehabt haben, so bald ist die Auflösung vollkommen. Es ist wohl zu merken, daß so wohl die Verwicklung als die Auflösung aus der Handlung selbst fließen müsse. Es ist also die Pflicht des Dichters jeden Erfolg vorzubereiten, jede Wirkung nach gehörigen Graden wachsen zu lassen, keinen Auftritt ohne Absicht und alle in Absicht auf das Ganze, und auf den Zweck, auf welchen seine Handlung nach der obigen vierfachen Eintheilung zielet, anzuordnen. Versäumt er dieses, so wird er die Dauer, die Einfalt und die Einheit der Handlung beleidigen, und anstatt einer Verwicklung, eine Verwirrung machen.

Die Nebenhandlungen werden eben so bearbeitet, als die Haupthandlung; sie haben eben dieselbe Eigenschaften, eben so wohl Vorbereitung, Verwicklung und Auflösung nöthig. Aber sie sind nur um der Haupthandlung willen da, und müssen also mit derselben aufs genaueste verbunden seyn, das ist, sie müssen entweder als unmittelbare Folgen aus derselben fließen, oder als Mittel zur Beförderung der Haupthandlung anzusehen seyn; in beyden Fällen aber müssen sie dienen, die Handlung größer, schöner, lebhafter, kurz, vollkommener zu machen; also ist z. B. eine unmittelbare Folge der Haupthandlung, die dieselbe nicht merklich vollkommener macht, nicht geschickt, eine Nebenhandlung abzugeben.

<Seite 46:>

Aus allen diesem erhellet genugsam, daß der Dichter seine größte Kunst in der Anordnung des Plans zeigen müsse, aber nirgends muß die Kunst mehr verborgen seyn, als eben hier; der Zuschauer muß niemals merken, daß es dem Dichter darum zu thun ist, eine Erklärung, eine Situation, eine Verwicklung zu machen; es muß alles aus der Natur, und aus Gründen, die in der Handlung selbst liegen, zu fließen scheinen. Wie wird es aber dem Dichter gelingen, uns seine Kunst zu verbergen, und uns bloß ihre Wirkungen empfinden zu lassen? Kann er sich wohl dazu eines vortrefflichern Mittels bedienen, als desjenigen, das der Zweck des ganzen Trauerspiels ist, nämlich der Erregung der Leidenschaften. Dieses Mittel, welches das vortrefflichste ist, ist zugleich das natürlichste: die erregten Leidenschaften, verbergen nicht allein die Kunst des Dichters, sondern sie sind auch der Grund derselben, die Quellen, woraus alles, was er zu seinen Absichten nöthig hat, entspringen kann. Die Pflicht des Dichters, die Leidenschaften zu erregen, ist außer allem Streit; und es haben so viele Kunstrichter von der Art dieselben zu erregen, gehandelt, daß wir es für unnöthig halten, unsere Abhandlung, mit einer Untersuchung, wobey wir wenig neues sagen könnten, zu vergrössern. Wir wollen nur einige allgemeine Anmerkungen dabey machen: 1) Der Dichter überhaupt ahmet die Natur nach, aber nur in so fern sie sinnlich ist; so ahmet der tragische Dichter insbesondere auch die Natur nach, aber nur in so fern sie heftige Leidenschaften erreget. Viele tragische Dichter, und sonderlich viele deutsche tra- <Seite 47:> gisch seynwollende Dichter haben sehr öfters ihre Trauerspiele eben dadurch matt gemacht, daß sie sie haben natürlich machen wollen. Es ist wahr, tragische Handlungen müssen nicht offenbar wider die Natur streiten, sondern sie müssen wahrscheinlich seyn; aber der Zuschauer bedarf zu dieser tragischen Wahrscheinlichkeit nur sehr wenige Kennzeichen des Wahrscheinlichen; er untersucht nicht, ob eine Handlung auf das allergenauste genommen, etwas Unwahrscheinliches haben könnte, am allerwenigsten denkt er bey Handlungen daran, die ihn rühren. Hieraus folgt 2) eine Maxime die sehr praktisch ist: Wenn der Dichter unter zwo Handlungen oder unter zwo Arten eine Handlung vorzustellen, zu wählen hat, deren eine natürlich, die andere zur Rührung geschickter ist, so muß er die letztere wählen. Wie viel kalte Auftritte würden uns die Dichter ersparet haben, wenn sie also hätten wählen wollen! Es ist z. B. sehr natürlich, daß eine Begebenheit, welche an einem andern Orte vorgegangen ist, erzählet wird; aber wie wenig wird der Zuschauer dadurch gerühret werden. Darf man also zweifeln, daß der Dichter mehr Lob verdiene, wenn er uns einen Gegenstand, den er auch erzählen könnte, lieber selbst vorstellet; und werden wir ihm nach Beschaffenheit der Umstände nicht leicht vergeben, wenn er, um uns heftiger zu rühren, von der allzugenauen Einheit des Orts abweichet, und den Ort entweder unbestimmt läßt, oder wenn es nöthig ist, gar verändert; desgleichen ist es sehr natürlich, daß jemand einem vertrauten Freunde sein Schicksal klagt, wenn aber dieser Vertraute fast nichts zu thun <Seite 48:> hat, als die Klagen anzuhören, wenn also das Gespräch matt wird, und den Zuschauer wenig interessirt, so thut der Dichter besser, wenn er in einer Monologe den Klagenden, den Zornigen, den Unentschlossenen mit sich selbst sprechen läßt, wenn er alle Empfindungen in einer Brust entstehen und durch sich selbst bekämpfen läßt. Eine solche Vorstellung ist nicht gänzlich natürlich, aber sie ist auch nicht wiedernatürlich; es ist der Natur gar nicht zuwider, daß ein in Bewegung gebrachter Mensch mit sich selbst spricht, auch nicht daß er laut spricht: es geschieht zwar nicht allezeit, daß er beständig laut, und zugleich so redet, daß ihn jedermann verstehen kann; aber diese Vorstellung bewegt uns mehr, als ein kaltes Gespräch; sie setzt uns außer uns, wir sehen einen gerührten Menschen, und werden selbst gerührt; sollten wir uns wohl einfallen lassen, uns selbst darüber zu chicaniren, daß wir dieser Rührung zu gefallen, eine kleine fast unmerkliche Unwahrscheinlichkeit vergessen? 3) Was nicht Leidenschaften erreget, gehöret gar nicht in ein Trauerspiel. Nicht allein komische Handlungen sind aus dem Trauerspiele verbannt, sondern auch alle Handlungen die zu geringe sind, als daß sie einen heftigen Eindruck machen sollten, Reden ohne Handlung, Begebenheiten die das Herz unbewegt lassen, schwache Sentimens, die zwar an sich gut sind, aber nicht Macht genug haben, unser Herz in die süße Unruhe zu setzen, die das Trauerspiel erregen soll, müssen im Trauerspiele niemals vorkommen. Hierwider handeln diejenigen, die in alle Trauerspiele Liebe bringen; die Liebe ist eine Gemüthsbewegung, die zwar in Trauerspielen zu <Seite 49:> gebrauchen ist, aber an sich selbst ist sie gewiß nicht tragisch. Wir werden nicht zu viel sagen, wenn wir behaupten, daß die tragischen Folgen der Liebe allerdings des Trauerspiels würdig sind, daß aber die Liebe selbst dem Trauerspiele nur alsdenn angemessen ist, wenn sie selbst schon schreckliche Umstände an sich hat, und ihre entsetzliche Folgen schon bey sich führet, oder mit der lebhaftesten Gewißheit vorher sehen läßt, wie z. B. die Liebe der Phädra. Außerdem ist keine Person langweiliger als ein tragischer Held, der seiner Geliebten Galanterien vorsagt. Und unter allen Dichtern, die ihre Handlung von Ledens beyden Eyern anfangen, ist keiner unerträglicher als ein tragischer Dichter, der den Roman ganz von vorne anfängt, den Held im ersten Aufzuge verliebt werden läßt, und ihn endlich durch eine Folge von verliebten Peinigungen, zu einer erwünschten Heirath, oder zu einer grausamen Trennung führet.

Unter den Mitteln, deren sich der Dichter zu Erregung der Leidenschaften bedienen kann, verdienen die Charaktere eine besondere Betrachtung: Das, was die Kunstrichter in den dramatischen Stücken, die Sitten nennen, ist die Anzeigung der Denkungsart einer jeden Person, und Aristoteles (*) hat sehr gute Regeln gegeben, wie sie beschaffen seyn müssen, wenn sie tragisch seyn sollen. Wenn sich nun in einer Person verschiedene Neigungen vereinigen, so daß sie auf eine so besondere Weise handelt, als ein ande- <Seite 50:> rer ihres gleichen in gleichen Umständen nicht würde gehandelt haben, so sagt man, diese Person habe einen Charakter. Wir haben oben gesehen, und es ist sonst bekannt, daß ein Trauerspiel ohne Charaktere seyn kann, alsdenn fließt die Verwicklung aus den Umständen, in welchen sich die handelnden Personen befinden, und ist nicht in ihrer Gemüthsbeschaffenheit gegründet; haben aber die vornehmsten handelnden Personen Charaktere, so müssen ihre Handlungen aus denselben fließen, und werden eben dadurch lebhafter und interessirender; und weil wir aus den Charakteren den Erfolg der Handlungen schließen können, so werden diese dadurch bestimmter und nothwendiger. Es fraget sich nun, wie tragische Charaktere beschaffen seyn müssen? Wäre der Zweck des Trauerspiels, nach der Erklärung des Aristoteles, die Leidenschaften zu reinigen, oder die Sitten zu verbessern, so würden die besten tragischen Charaktere diejenigen seyn, welche uns Muster der Tugend und des Wohlverhaltens, oder Beyspiele der Gottlosigkeit und Bosheit vorstellten; ist aber der wahre Zweck des Trauerspiels, die Erregung der Leidenschaften, wie wir hinlänglich erwiesen haben, so werden bloß diejenigen Charaktere tragisch seyn, welche geschickt sind, heftige Leidenschaften zu erregen: Das ist, nach des Aristoteles eigenem Satz, ein sehr tugendhafter Mann, der aber durch einen Fehler ins Unglück fällt; oder wie wir hinzusetzen können, ein Bösewicht, der auch unglücklich wird, für den uns aber der Dichter durch einen gewissen Schein von Tugend, so lange die Verwicklung währet, interessiren kann. Ein vollkommen tugendhafter Charak- <Seite 51:> ter ist zum Trauerspiel nicht geschickt; sollte er glücklich werden, so würde er nichts als Vergnügen, und gar keine tragische Leidenschaften erwecken, sollte er aber unglücklich seyn, so würde sich unsere natürliche Gerechtigkeit wider den Dichter empören. Weil nun ein tragischer Held nothwendig unglücklich seyn muß, und aus dem Charakter die Handlung fließen soll, so muß sich, wenn er tugendhaft ist, ein Fehler an ihm finden, aus dem ein Unglück entstehen kann. Eben also würde uns der Dichter gegen sich empören, wenn er einen Bösewicht glücklich werden lassen wollte, und er würde nur ein gemeines Vergnügen ohne Leidenschaften erwecken, wenn er ihn durch ein Unglück bestrafen wollte; wenn er ihm aber einen Schein von Tugend giebt, wenn er ihm ein falsches System von Tugend, von Ehre u. s. w. beylegt, und ihn dasselbe auf seine Bosheiten anwenden läßt, so interessiren wir uns einigermaßen für denselben, unsere Aufmerksamkeit verdoppelt sich in dem Laufe der Handlung, und wenn er wirklich unglücklich wird, so ist unser Vergnügen über seine Bestrafung, mit einer Art von Mitleiden verknüpft. Durch dieses Mittel ist z. B. in dem Spieler der Charakter des Stuckeley, des ärgsten und niederträchtigsten Bösewichts unter der Sonnen, erträglich und schön.

Wir wollen diese Sätze durch die Charaktere des Canut und Ulfo, in dem Trauerspiele Canut, erläutern. Kann ein abscheulicherer Mann als Ulfo gefunden werden? Er verräth seinen König, heirathet durch List dessen Schwester, und da er von ihm die großmüthigste Vergebung erhalten hat, und <Seite 52:> mit neuen Wohlthaten überhäuft ist, so steht er ihm durch eben diese Wohlthaten nach dem Leben, kurz, keine That ist ihm zu abscheulich, um einen unbändigen Ehrgeitz zu befriedigen. Was macht also diesen abscheulichen Charakter tragisch? Ist es nicht das falsche System von Ehre, der Schein von Heldenmuth, der aus allen seinen Worten hervorleuchtet? So verabscheuenswürdig er uns auch vorkommen muß, so müssen wir ihn doch gewissermaßen bewundern, wenn wir ihn z. B. zu Estrithen sagen hören:

Du bist die einzige, die ich zu sprechen scheue;
Doch fordre nur von mir nicht Demuth oder Reue.
Mein Herz, das wer ich bin auch sterbend nicht vergist,
Weis, welchen Schluß es nun sich selber schuldig ist.
Das Glück haßt meinen Ruhm, und will mich nicht erheben,
Was mir das Glück versagt, will ich mir selber geben,
Und zeigen was es mir für Unrecht angethan,
Und daß man auch durch Muth dem Schicksal trotzen kann.

Oder zum Canut:

Erkenn, entwaffnet noch des Ueberwinders Hand,
Den nicht die Tapferkeit, nur Macht und Menge band.
Was meinen Ruhm erhebt, hab ich mich stets erkühnet,
Thu nun was deinem Ruhm und deinem Throne dienet.

Und da ihm Canut das Todesurtheil spricht:

Nun bin ich erst vergnügt, nun sagt die späte Zeit,
Canut hielt Ulfons Tod für seine Sicherheit.
Der Fürsten Richterschwerd, der Uebelthaten Rächer
Macht Helden groß, und schimpft nur niedrige Verbrecher.

<Seite 53:>

Canut hingegen ist der gütigste, vortrefflichste Mann, aber, was kann diesen vortrefflichen Charakter tragisch machen? Kann er Mitleiden erregen? Nein, denn er ist nicht unglücklich. Er kann also vielleicht Bewunderung erwecken? Auch dieses nicht; es ist wahr, alle seine Handlungen sind würdige Beyspiele eines Fürsten, sie zeigen von der größten Gütigkeit, von der weisesten Langmuth, von der edlen Kunst, den Betrübten die Schamröthe zu ersparen, und den Verbrechern auf die großmüthigste Art zu vergeben. Alle diese Handlungen erwecken das süßeste Wohlgefallen in uns, sie sind vortreffliche Eigenschaften eines tragischen Helden, aber bloß diese Eigenschaften machen keinen tragischen Held; hiezu würde erfordert, daß sein Charakter nicht durchaus gut wäre, daß er einen Fehler beginge, aus dem ein Unglück fließen könnte, alsdenn würde er nicht allein Schrecken und Mitleiden erregen, sondern alle seine Handlungen, die uns itzt gefallen, würden wir alsdenn bewundern.

Es ist ferner eine Regel, die die Kunstrichter schon längstens eingeschärfet haben, daß die Charaktere nicht allein auf die feinste Weise unterschieden, und einander entgegen gesetzt seyn sollen, sondern, daß auch alle Charaktere, so wie alle Handlungen, in Absicht auf einen einzigen arbeiten müssen, der vor den andern hervorleuchtet, und der Hauptcharakter ist. Wenn wir nun das Trauerspiel Canut betrachten, so können wir nicht anders schließen, als daß Ulfo der Hauptcharakter und zugleich die Hauptperson sey; dieß ist die Person, um welche willen alle andere handeln, welche selbst am meisten handelt, und in <Seite 54:> beständiger Bewegung ist, die einzige Person, welche eine Glücksänderung hat, und aus dem Glück in das äußerste Unglück, ohne Hoffnung einer Errettung, gestürzet wird, deren Schicksal endlich, so bald es entschieden ist, auch der Handlung ein Ende macht. Canut kann am wenigsten die Hauptperson seyn, er handelt sehr wenig, und jederzeit in Absicht auf andere, er ist in beständiger Ruhe. Sein Zustand bleibt immer eben derselbe, und er erreget wenig, oder vielmehr gar keine Leidenschaften. Estrithe, ob sie gleich wirklich Mitleiden erreget, kann dennoch die Hauptperson nicht seyn, denn sie ist offenbar eine Nebenperson, da sie beständig um des Ulfo willen handelt, da es schwer zu entscheiden ist, ob sie glücklicher oder unglücklicher werde, indem ihr Schicksal am Ende unentschieden bleibt. Dieser Mangel bey der Verbindung der Charaktere, macht in der Catastrophe dieses Trauerspiels viel Verwirrung. Ulfo kann, ob er gleich offenbar die vornehmste Person ist, dennoch so wie er da ist, der eigentliche Held eines Trauerspiels nicht seyn, denn er hat sein schlechtes Schicksal zu sehr verdient, und wir können nicht Mitleiden mit ihm haben; gleichwohl erweckt er durch die Bewegung, in der er ist, durch den Muth und die Verachtung des Todes, den er zeiget, und durch den Antheil, den alle andere Personen an seinem Schick[sa]le nehmen, alle unsere Aufmerksamkeit; dieser in Bewegung gesetzte Charakter, verdunkelt, so hassenswürdig er ist, den ohnedem schon allzuruhigen Charakter des Canut, auf den sich doch unsere ganze Aufmerksamkeit wenden sollte. Estrithe erreget zwar Mitleiden, aber dieses Mitleiden kömmt eher dem Charak- <Seite 55:> ter des Ulfo, als dem Charakter des Canut zu Hülfe, und weil ihr Schicksal gänzlich unentschieden bleibt, so erreget sie nicht einmal so viel Aufmerksamkeit, als sie erregen könnte und sollte. Wir interessiren uns für die Hauptperson zu wenig, für eine Person, die eine Nebenperson seyn sollte, zu viel, und nicht selten ist das Interesse, so wie unsere Aufmerksamkeit, getheilet und unbestimmt. Es kömmt nun darauf an, zu untersuchen, wie der Dichter dem Interesse in diesem Trauerspiele an dem rechten Orte seine völlige Stärke hätte geben, und es auf eine einzige Person vereinigen können. Man wird leicht sehen, daß man über eben diese Begebenheit, mit gehörigen Veränderungen, noch zwey Trauerspiele machen könnte, eines nämlich von dem Ulfo die wirkliche Hauptperson, und das andere, von dem Estrithe die Hauptperson wäre. Wir wollen aber bey dem Trauerspiel stehen bleiben, von dem Canut die Hauptperson ist, und seyn soll. Es wird, um seinen Charakter ins Licht zu setzen, weiter nichts erfordert, als daß er einen Fehler begehe. Lesern, die das Wesen des Trauerspiels, und was wir oben von der Beschaffenheit der tragischen Charaktere gesagt haben, genugsam einsehen, wird dieses gar nicht paradox scheinen. Der Fehler, den Aristoteles zu einem tragischen Helden erfodert, ist nicht nothwendig ein Laster, er fodert nichts als ein wirkliches Versehen, eine Handlung, durch die der Held ins Unglück fällt. So ist z. B. in dem Oedipus des Sophokles in diesem Verstande der Fehler, nicht der Mord des Laius, der außer der Handlung ist, sondern die Neugierigkeit, ein Stück des Charakters des Oedipus: denn <Seite 56:> ohne dieselbe wäre er nicht unglücklich geworden. Canut ist gänzlich gütig; wenn er also durch seine Güte unglücklich wird, so ist diese Güte sein Fehler, und weit gefehlt, daß dieses seinen Charakter verdunkeln sollte, so wird es ihn vielmehr in das rechte tragische Licht setzen. Der sel. Hr. P. Schlegel hat wirklich in seinem Trauerspiel die beste Anlage dazu gemacht; und es ist zu bewundern, daß ein Mann wie er, vielleicht nur bloß um der Geschichte zu folgen, aus einer wohl gemachten Anlage den Vortheil nicht gezogen hat, den er daraus hätte ziehen können. Canut, aus einer Folge seiner Gütigkeit, erweiset dem Ulfo, indem er ihm vergiebt, neue Wohlthaten, er setzt ihn zum Anführer eines Heeres, das den Mord eines seiner Bundsgenossen rächen soll; jeder Staatsmann wird behaupten, daß ein König, der einen Nebenbuhler des Reichs, wenn er auch versöhnt scheint, ein Heer in die Hände giebt, einen Fehler begehe; weil aber dieser Fehler dem Canut nicht schadet, so ist er ihm in dem Trauerspiele für keinen Fehler anzurechnen, weil in demselben Dinge, die außer der Handlung sind, niemals in Anschlag kommen müssen; gesetzt aber, dieser Fehler hätte wirklich die schlimmen Folgen, die er haben kann; gesetzt, Ulfo brächte das gottlose Vorhaben, durch das ihm anvertraute Heer, den König ermorden zu lassen, wirklich zu Stande, so würde das ganze Trauerspiel ein anderes Ansehen bekommen, Canut würde unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen, er würde seine Gütigkeit nie in einem schönern Augpunkte zeigen können, wenn er seinem Feinde auch noch sterbend vergäbe, Ulfo, welchen Godschalk oder Godewin tödten könnte, würde <Seite 57:> auch auf dem Theater, mit der seinem Charakter gemäßen Halsstarrigkeit sterben, und hier würde er den vollkommensten Contrast gegen den Charakter des Canut machen. Wie vortreffliche Situationen, wie sehr rührende Scenen, würde eine solche Entwicklung einem Dichter nicht an die Hand geben. Der Schmerz der Estrithe, würde ungemein vergrößert, und der Zuschauer weit vorzüglicher für sie eingenommen werden. Fände der Dichter für nöthig ihren Zustand zu bestimmen und die Tugend zu belohnen, so wie das Laster bestraft worden, so würde nichts natürlicher seyn, als daß, wenn Godewin durch eine merkwürdige That (z. B. wenn er den Ulfo getödtet hätte) eine vorzüglich wichtige Person geworden wäre, ihn Canut zum Nachfolger des Reichs erklärte, und ihm die Estrithe, die ihm schon ehemals bestimmt war, zur Gemahlinn gäbe. Selbst diese Catastrophe würde eine sehr rührende Situation an die Hand geben.

Aus diesen Betrachtungen werden die Pflichten, die der Dichter in Absicht auf die Charaktere hat, leicht zu ersehen seyn, und wir haben nur noch etwas von dem tragischen Ausdruck zu sagen. Wir können hier die vortrefflichen Anmerkungen, die der sel. Hr. P. Schlegel in der Vorrede zu seinen theatralischen Werken gemacht hat, anpreisen, und wir können den Dichtern rathen, noch mehr seinen Beyspielen als seinen Regeln zu folgen, denn er war in der tragischen Sprache ein Meister, und außer ihm und Hrn. Leßing (in der Miß Sarah Sampson) hat leider, so viel wir wissen, kein einziger unter den deutschen Trauerspieldichtern und Uebersetzern eine <Seite 58:> Sprache gehabt, die des Trauerspiels würdig wäre. Von dieser Seite sehen die deutschen Trauerspiele gewiß so schlecht aus, als von irgend einer andern. Es wäre sehr überflüßig, wenn wir dieses durch Beyspiele beweisen wollten; wir dürfen uns nur bey allen Leuten, die Empfindung und Geschmack haben, auf den größten Haufen deutscher Trauerspiele berufen, sie werden allenthalben, kriechende Gedanken, pöbelhafte Ausdrücke, matte Verse und selbst gar nichts bedeutende Worte, und non sense in Menge antreffen. Gleichwohl ist der Ausdruck ein so wichtiges Stück der Beautez de detail, eine der Eigenschaften des Trauerspiels die am meisten glänzen, und die selbst einem mittelmäßigen Stück viel Beyfall bringen können, daß es kaum begreiflich ist, wie die deutschen Dichter so wenig auf desselben Vollkommenheit bedacht gewesen sind, und daß sie die Anmerkungen des Hrn. P. Schlegels entweder so wenig verstanden, oder sich so wenig zu Nutze gemacht haben. Wir wollen versuchen, ob wir in einigen kurzen Sätzen, diesen Theil des Trauerspiels in einiges Licht setzen können: 1) Der Dichter muß die tragischen Personen edel und des Trauerspiels würdig denken lassen. Ein Dichter, der nicht so viel Genie hat, daß er seinen Helden würdige Sentimens beyleget, der wird auch gewiß niemals eine vollkommene tragische Sprache haben: denn die tragische Sprache ist nicht ein Gemisch wohlklingender Redensarten, sondern der Ausdruck der Gedanken, welche die tragischen Personen entdecken, so wie er der Erregung der Leidenschaften, und der Gemüthsbeschaffenheit des Redenden selbst, am gemäßesten ist. <Seite 59:> Folglich müssen 2) die tragischen Personen sich auch edel ausdrücken. Herr P. Schlegel hat diesen Artikel sehr gründlich ausgeführt, und man muß von dem Geist einer gewissen deutschen Sekte sehr eingenommen seyn, wenn man sich vorstellen kann, daß Personen, die uns im höchsten Grad rühren, und vor sich einnehmen sollen, dennoch reden können, so wie der Pöbel redet. 3) Die tragischen Personen müssen sinnlich und nachdrücklich reden. Wir verbinden diese Eigenschaften der tragischen Sprache mit einander, und wir verstehen durch diesen Satz, daß die tragischen Personen das auszudrückende Sentiment jederzeit gerade so ausdrücken sollen, daß uns seine ganze Stärke in die Augen fällt, und daß es uns so sehr, als es rühren und bewegen kann, rühret und beweget. Hiezu wird hauptsächlich erfodert, daß der Dichter sich aller Nebenbegriffe enthalte, die zum Ausdruck seines vorhabenden Sentiments nicht gehören, keinen Begriff versäume, der den Nachdruck befördern kann, und die Begriffe gerade in der Ordnung folgen lasse, in der sie die beste Wirkung haben. Wer noch zweifeln kann, ob die deutschen Trauerspielschreiber dieses verstehen, der darf nur die Uebersetzungen französischer Trauerspiele in der deutschen Schaubühne gegen die Urkunden halten, so wird er Beyspiele genug finden, wie man Sentiments, die ein Franzose edel, prächtig, nachdrücklich, naiv, gesagt hatte, im Deutschen pöbelhaft, gemein, matt und unverständlich ausdrücken könne. Weil sich diese Fehler besser durch Beyspiele als durch Lehrsätze widerlegen lassen, so wollen wir nur aus der gottschedischen Alzire der Kürze wegen <Seite 60:> einige anführen, so wie sie uns in die Augen fallen.

Zamore.
Souviens toi du jour epouvantable,
Ou ce fier Espagnol, terrible, invulnerable
Renversa, detruisit, jusqu'en leurs fondemens,
Ces murs que du Soleil ont bati les enfans.
Gusmann etait son nom. Le destin qui m'oprime
Ne m'aprit rien de lui que son nom et son crime.
Ce nom, mon cher Monteze, à mon coeur si fatal,
Du pillage et du meurtre etait l'affreux signal.
A ce nom de mes bras on m'arracha ta fille,
Dans un vil esclavage on traina ta famille:
On demolit ce Temple et ces Autels cheris,
Ou nos Dieux m'attendaient pour me nommer ton fils.

Gottschedische Uebersetzung.
Denke doch an den erhitzten Tag,
Als unsers Feindes Stal, und seines Donners Schlag
Die Stadt, die ehemals ein Sonnenkind errichtet
Verheert, beraubt, geschleift, und alles ganz zernichtet.
Sein Laster weis ich nur, und Gußman dieß der Hund,
Sonst that das Schicksal mir von ihm nichts weiter kund;
Und dieser Name selbst, der mir so hart geschienen,
Der mußte Raub und Mord zur steten Losung dienen.
Bey diesem Namen ward mir auch dein Kind geraubt.
O Schmerz, der meiner Brust das Leben kaum erlaubt!
Hier mußte dein Geschlecht in Sklavenketten gehen,
Dort Tempel und Altar durchaus verwüstet stehen,
Zu denen doch dein Wort, und meines Glückes Schein
Mich ehstens hinberief, dein Schwiegersohn zu seyn.

<Seite 61:>

Versuch einer prosaischen Uebersetzung.
»Erinnere dich jenes entsetzlichen Tages, da jener stolze, schreckliche, unüberwundene Spanier, diese Mauern, welche die Kinder der Sonne erbauet haben, umstürzte, und bis in den Grund zerstörte. Gußmann war sein Name; das Schicksal, das mich verfolgt, entdeckte mir weiter nichts von ihm, als seinen Namen und sein Laster; dieser Name, werther Monteza, dieser meinem Herzen so unglücksvolle Name, war die schreckliche Losung des Raubes und des Mordes; bey diesem Namen entriß man dein Kind aus meinen Armen; man riß dein Geschlecht in niedre Sklaverey; man zerschmetterte die Tempel und jene werthen Altäre, wo ich vor den Augen unserer Götter dein Sohn werden sollte.«

Alvares.
Meritez donc mon fils un si grand avantage,
Vous avez triomphé de nombre et du courage,
Et de tous les vengeurs de ce triste univers
Une moitie n'est plus et l'autre est dans vos fers.

Gottschedische Uebersetzung.
Auch dießmal konnte nichts dieß wilde Volk erretten,
Der eine Theil ist todt, der andre geht in Ketten.
Du trägst den Sieg davon, wie es dein Herz begehrt,
Ach mach dich auch mein Sohn solch eines Vorzugs werth.

Versuch einer prosaischen Uebersetzung.
»Sey nunmehr mein Sohn eines so wichtigen Vortheils werth, du hast Tapferkeit und Menge besieget, von allen Rächern dieser unglücklichen Welt ist die eine Hälfte nicht mehr, die andere hast du in Ketten gelegt.«

<Seite 62:>

Zamore.
Toi qui m'as tant aimé, tu m'ordonnes de vivre.
Eh bien! j'obeirai, mais oses tu me suivre?
Sans trone sans Secours au comble du malheur
Je n'ai plus à t'offrir, qu'un desert et mon coeur.
Autrefois à tes pieds j'ai mis un Diadéme.

Gottschedische Uebersetzung.
Du, die mich so geliebt, willst jetzt mein Leben fristen,
Wohlan! ich geb es zu: Doch kömmst du auch mit mir
Nicht Zepter, Reich noch Thron nur lauter Noth folgt dir.
Ich habe nur ein Herz, das ich dir noch kann geben
Auf, willst du nun mit mir in öden Wäldern leben?
Vor diesem hätt' ich dir ein Königreich gebracht.

Versuch einer prosaischen Uebersetzung
»Du, die du mich so geliebt hast, gebietest mir zu leben. Wohlan, ich gehorche, doch wagst du es, mir zu folgen? Ohne Thron, ohne Hülfe, auf dem Gipfel des Unglücks, kann ich dir nichts anbieten, als eine Wüste und mein Herz; Sonst habe ich eine Krone zu deinen Füßen gelegt.«

Gusmann.
Des Dieux que nous servons connais la difference,
Les tiens t'ont commandé le meurtre et la vengeance
Et le mien, quand ton bras vient de m'assassiner,
M'ordonne de te plaindre et de te pardonner.

Gottschedische Uebersetzung.
Anjetzt erkenn einmal der Götter Unterscheid
Mein Gott gebeut es mir, daß dir mein Herz verzeiht,
Und dich dazu beklagt: der deine lehrt dich hassen,
Und selbst das Mörderschwert zu deiner Rache fassen.

<Seite 63:>

Versuch einer prosaischen Uebersetzung.
»Erkenne den Unterschied der Götter, welchen wir dienen; deine Götter geboten dir Meuchelmord und Rache, und da mich dein Arm erleget hat, so gebeut mir mein Gott dich zu beklagen, und dir zu vergeben.«

Aus diesen Beyspielen werden unsere Leser leicht einsehen können, was für ein Unterschied sey, unter Begriffen, die kurz und nachdrücklich ausgedruckt sind, und unter solchen die unter einer Last von weitschweifigen und unnützigen Wörtern ermatten; unter Sentimens die in ihrem besten Lichte stehen, und unter solche, die sich unter einander verwirren, anstatt sich beyzustehen; unter Gegensätzen, die an ihrem Orte stehen, und uns frappiren, und (sonderlich in den beyden letztern Exempeln) unter Gegensätzen, die aus ihrer Ordnung gerissen, und nicht mehr Gegensätze, sondern ein Mischmasch von Begriffen sind, welche nicht ex fumo fulgorem, sondern ex fulgore fumum geben; unter einem anständigen und würdigen Ausdruck, und unter einem Gemisch von pöbelhaften und gemeinen Wörtern und Wendungen; kurz unter einem Dichter der die tragische Schreibart in seiner Gewalt hat, und unter einem Schreiber, der sich nicht einmal genau und ordentlich, geschweige tragisch auszudrucken weis. In dem Trauerspiele muß alles in Bewegung seyn, und auf die Rührung abzielen, also auch die tragische Sprache. Jeder Ausdruck der uns die vollkommenste Rührung empfinden läßt, ist der beste. Eine Zeile die uns einen ganzen Charakter einsehen läßt, ein:

<Seite 64:>

Ecoutez Bajazet je sens que je vous aime

der Roxane; ein.

Je crains Dieu cher Abner et n'ai point d'autre crainte

des Hohenpriesters in Racinens Athalie; ein.

Qu'il mourut

des alten Horaz; ein.

Mais Orosmane m'aime et j'ai tout oublié

der Zayre; ein.

Cognosco fratem

des Thyest, sind mit keinen prächtigen Beschreibungen zu ersetzen. Mit solchen Sentimens, die zwar nicht alle so stark, aber jedes nach Maßgebung des Verhältnisses in dem es steht, rühren, muß das Trauerspiel erfüllet seyn, und eben so der Rührung gemäß, muß sie der Dichter ausdrucken. Wir wollen hierbey anmerken, daß man zuweilen, um des stärkern Ausdrucks der Leidenschaft willen, sich einer Redensart bedienen könne, die sonst den Eigenschaften der tragischen Sprache nicht gänzlich gemäß ist. Zum Beyspiel dienet eine Stelle, wo es scheint, als wenn die gottschedische Uebersetzung der Alzire aus Irrthum auf den rechten Weg gerathen sey; Zamor, dem man anräth, ein Christ zu werden, um sein und der Alzire Leben zu erhalten, antwortet:

Alzire sprich, ist wohl das Leben so viel werth
Daß man dafür von uns ein Bubenstück begehrt?

Der Herr P. Schlegel hat mit Recht das Wort Bubenstück als ein zu gemeines und des Trauerspiels unwürdiges Wort getadelt. Hier aber scheint es, daß Zamor, den Abscheu, den er hatte, wie er sich ausdrückt, Guzmans Gott für seine Götter zu <Seite 65:> wählen, nicht lebhafter an den Tag legen konnte, als durch ein Wort, das die äußerste Verachtung bezeichnet, mit der er den Vorschlag zu einer, seinen Begriffen nach, so unedlen That ansahe. Wenn hingegen jemand z. B. die Ermordung des Guzmans ein Bubenstück hätte nennen wollen, so würde es unerträglich gewesen seyn.

Daß die tragischen Personen sinnlich und nachdrücklich reden sollen, hindert nicht, daß sie nicht 4) schön reden sollten. Der Dichter muß sich erinnern, daß er die Natur nachahmen soll, daß aber seine Nachahmung nicht die Natur selbst seyn soll. Es steht ihm also frey, sich aller Schönheiten des Styls zu bedienen, um den Eindruck seiner Sentimens lebhafter zu machen, gesetzt auch, daß es nicht wahrscheinlich wäre, daß seine Helden, wenn sie wirkliche Personen wären, also geredet hätten. So bald er uns heftiger rührt, werden wir ihn über geringe Wahrscheinlichkeiten nicht chicaniren; alles ist ihm erlaubt, starke Bilder, poetische Züge, malerische Beywörter, harmonische Verse. So wie er die tragischen Helden nicht etwa, so wie sie gewesen sind, oder gewesen seyn könnten, sondern so vorstellen muß, wie sie dem Charakter und den Situationen nach, die er ihnen giebt, seyn müssen; eben also muß er sie auch nicht reden lassen, wie sie reden könnten, oder geredet haben könnten, sondern so, wie sie den größten Eindruck auf uns machen. Ein schlechter und gemeiner Styl würde uns wenig rühren, aber ein affektvoller, bilderreicher, harmonischer Styl entzücket uns, und reißt uns mit sich; Wirkungen die er <Seite 66:> allenthalben und also auch im Trauerspiele haben muß.

So sehr aber die Wirkungen der schönen Schreibart der Absicht des Dichters zu statten kommen, so viel Vorsicht hat er zu beobachten, daß er sie behutsam gebrauche, damit sie seiner Absicht nicht schaden mögen. Er muß sich erinnern, daß die Reizungen der Schreibart nur dienen sollen, seine Gedanken lebhafter zu machen. Wenn also 1) ein Gedanke durch seinen natürlichsten Ausdruck lebhaft genug wird, so ist aller Schmuck schädlich. Es giebt, wie wir schon oben angeführt haben, Sentimens, die ganz einfältig ausgedruckt, die stärkste Wirkung haben, diese würden, zierlich und geschmückt ausgedruckt, kalt werden; so oft also der Dichter solche Sentimens auszudrücken hat, so würde er schlecht schreiben, wenn er durchaus schön schreiben wollte. 2) Wenn die Schreibart den Gedanken nicht lebhafter oder rührender, sondern nur schöner macht, so ist sie tadelhaft; das Schöne muß ein Mittel zu dem allgemeinen Zweck des Trauerspiels, der Erregung der Leidenschaften seyn, sonst steht es am unrechten Ort, und ist tadelhaft. Die Franzosen sind ohnstreitig sehr oft in diesen Fehler gefallen; sie wollen allenthalben witzig seyn, daher kömmt die gewaltige Menge von Antithesen oder Gegensätzen, die in ihren Trauerspielen so oft vorkommen, daß sie endlich nicht einmal Schönheiten bleiben, sondern unerträglich werden; selbst der Hr. P. Schlegel hat sich nicht allenthalben genug für die Antithesen gehütet. Ein Dichter, der Witz und Lebhaftigkeit besitzet, kann sehr <Seite 67:> leicht in diesen Fehler fallen, der aber dem wahren Ausdruck der Leidenschaften ungemein zuwider ist. 3) Ob es zwar dem Dichter erlaubt ist, den tragischen Personen schöne Redensarten beyzulegen, deren sie sich vielleicht, wenn sie sich in den vorgestellten Umständen wirklich befänden, nicht würden bedienet haben; so ist es ihm doch niemals erlaubt, ihnen schöne Gedanken beyzulegen, die sie in den Umständen, worinn sie sich befinden, nicht könnten gehabt haben. Die tragischen Personen müssen jederzeit denken, so wie es die Umstände, in welchen sie sich befinden, erfordern, und alsdenn ist es ihnen erlaubt, ihre Gedanken schön auszudrücken, damit sie der Zuschauer lebhafter und stärker empfinden möge. Ist aber der Gedanke selbst ihnen nicht angemessen, so ist er jederzeit tadelhaft, und doppelt ist er zu tadeln, wenn er schön ausgedrückt ist: weil der schöne Ausdruck uns einen Gedanken, den wir gar nicht empfinden sollten, noch lebhafter empfinden läßt. Schöne Gedanken, welche nicht an ihrem Orte stehen, zeigen uns nicht die tragischen Personen, welche vor uns handeln, sondern den Dichter, der beschreibt, Vergleichungen macht oder moralisiret. Aufs höchste wird er uns gefallen, dieses wollten wir aber nicht; wir wollten gerührt, bewegt, und interessiret werden; kurz, wir wollten die Wirkungen des Trauerspiels empfinden, nicht die Kunst des Dichters.

Wir beschließen hier eine Abhandlung, die vielleicht schon allzulang geworden ist. Wir bitten nochmals, daß man sie nach unsern Absichten, die <Seite 68:> wir im Anfange angezeiget haben, beurtheile; wir haben sie mehr in der Gestalt von Anmerkungen, als einer zusammenhängenden Abhandlung geschrieben. Ob wir gleich glauben, daß sie zu unserer jetzigen Absicht hinlänglich sey; so wissen wir dennoch sehr wohl, wie viel Stücke übrig geblieben sind, die wir nicht haben weitläuftig untersuchen können oder wollen. Wir behalten uns aber vor, verschiedene Stücke, sonderlich die Lehre von dem bürgerlichen Trauerspiel, besonders abzuhandeln.

*


<Seite 18:>

(*) Nach der Uebersetzung des Herrn Curtius S. II.
(**) Second Discours sur la Tragedie.

<Seite 19:>

(*) Reflexions sur la poesie et la Peinture T. premier.

<Seite 21:>

(*) Brumoy in s. Discours sur l'origine de la Tragedie p. 73. Lors qu'on s'apprivoise avec l'idée des maux on se fortifie soi-même contre eux. Im Theatre des Grecs, Ed. d'Amsterd. 1732. in 12.

<Seite 22:>

(*) Man hat sehr wahrscheinlich behauptet, daß Aristoteles der Erregung des Schreckens und Mitleidens diesen Nutzen deßwegen habe beylegen wollen, um dem Plato zu begegnen, welcher die Dichter wegen des allzustarken Eindrucks ihrer Werke, aus seiner Republik verbannet hatte.

<Seite 23:>

(*) Abhandlung von der Absicht des Trauerspiels S. 393.

<Seite 24:>

(*) Dichtkunst; nach der deutschen Uebersetzung S. 13.

<Seite 25:>

(*) Er scheint zwar die Meynung des Aristoteles etwas genauer einschränken zu wollen, indem er von fehlerhaften Charakteren redet. Aristoteles aber redet nicht von fehlerhaften, unanständigen und unglei- <Seite 26:> chen Sitten, von denen er hernach (S. 32. der Uebersetzung) handelt, sondern von Stücken, die ganz ohne Sitten, oder vielmehr ohne Charaktere sind.

<Seite 27:>

(*) Man sehe hiervon die vortrefflichen Briefe über die Empfindungen S. 141.

<Seite 43:>

(*) Discours sur l'origine de la Tragedie S. 95.

<Seite 49:>

(*) Im funfzehenten Kapitel seiner Dichtkunst S. 31. der deutschen Uebersetzung.

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