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VERWANDTE NAMEN UND STOFFE.

Es ist eine Erscheinung, welche sich durch die ganze Geschichte der Litteraturen hin verfolgen lässt, dass Nach- <Seite 92:> ahmungen, die ein bedeutendes Werk hervorruft, auch schon äusserlich ihre Abhängigkeit von dem Vorbilde in irgend einer Weise zur Schau tragen. Der Titel, die Namen der Personen, Schauplatz und Costüme der Handlung, Benennung des Werkes oder Eintheilung desselben zeigen meistens schon eine Beziehung auf das Muster; in der dramatischen Litteratur des vorigen Jahrhunderts können wir das bei den Nachahmungen der Emilia Galotti, des Götz und der Räuber ebenso aufweisen, wie bei denen der Miss Sara. Soweit scheint mir von den letzteren kein Stück zu gehen, dass auf die Handlung des nachgeahmten Stückes im Gespräche hingewiesen würde, wie dies in einer Nachahmung der Emilia Galotti, in der Tragödie: Die Gräfin von Wallberg [1] der Fall ist, wo Marinelli und Angelo geradezu genannt werden; aber im übrigen liegen die Anklänge im äusseren Apparat auch deutlich vor.

Ein Blick auf das Personenverzeichnis der genannten Dramen beweist nicht nur ihre Abhängigkeit von der Miss Sara ganz deutlich, sondern zeigt auch, wie sie untereinander zusammenhängen. Mit wenigen Ausnahmen müssen die Personen Engländer sein; man kann nicht genug englisch, um neue Namen zu erfinden, daher combinirt man die vorhandenen in der wunderlichsten Weise; die beiden Namen Marwood und Waitwell veranlassen in der Woodvil die Namen Southwell und Woodvil; im Renegaten heisst der Vertraute Welwood und in Miss Fanny ist er blos als Well zurückgeblieben; während ein bürgerliches Trauerspiel in einem Acte, das 1769 zu Giessen erschien, den Titel Breitwell führt. Granville im Freigeist, Grandlove im Renegaten und Greville in Miss Jenny können die Aehnlichkeit nicht verläugnen; aus dem Granville im Freigeist scheinen auch die beiden Namen Grandfeld und Blackville im Drontheim entstanden. Clerdon im Freigeist klingt als Clarendon in Eduard und Cecilie wieder; Manley in Weisses Amalia, ebenso in Eduard und Cecilie; der Stanley des letzteren Stückes mag mit dem Steely in Miss Fanny zusammengestellt werden. <Seite 93:> Schliesslich sei erwähnt, welche Rolle der Vorname Amalia spielt: Weisses Drama und das zweite in demselben Jahre erschienene tragen diesen Titel; im Freigeist, in der Woodvil und Miss Jenny kehrt der Name wieder.

Da das bürgerliche Trauerspiel von England nach Deutschland herübergekommen war, so verlegte man dahin auch die Handlung der Stücke; und wenn England nicht selbst der Schauplatz ist, sondern der Orient, wie im Renegaten, oder eine ferne Insel, wie in Miss Fanny, so sind doch die Träger des Interesses Engländer, [1] aus der Heimat entflohen, durch Schiffbruch verunglückt; oder wenigstens muss der Intrigant aus Grossbrittanien stammen, wie in den Lissabonern der 'Schottländer' Sir Carl.

Auch der engere Schauplatz der Miss Sara wird in einigen dieser Stücke beibehalten, so wenn in Weisses Amalia und im Freigeist die Handlung in einer kleinen Stadt Englands und in einem Gasthofe vor sich geht. Die Einheit des Ortes wird ähnlich wie in der Miss Sara behandelt und im Anschlusse an dieses Muster wird die Einheit der Zeit fast überall genau festgehalten; sie spielen von Morgen bis Abend, nur der Rhynsolt geht in der Nacht vor sich.

Entführung oder Flucht vor dem Vater, das Nachreisen des Vaters, um die Entflohenen zurückzubringen, das Nachreisen der Marwood, um ein zerrissenes Liebesband wieder anzuknüpfen: die zwei Momente der Handlung in der Sampson, Entfernung und Nachreisen zu einem bestimmten Zwecke, finden wir in einer ganzen Reihe von Dramen wieder. In Weisses Amalia hat Freemann Sophie entführt und lebt mit ihr unverheiratet, Amalia kömmt nach, um entweder das alte Liebesverhältnis wieder anzuknüpfen, oder um zu verzeihen und die beiden glücklich zu machen; in den Lissabonnern will Sir Carl Isabelle entführen, aber sich nicht mit ihr vermählen. Im Renegaten hat sich der Sohn von dem Vater entfernt; dieser schickt zuerst seinen Vertrauten Wel- <Seite 94:> wood nach, wie Sir Sampson zuerst Waitwell zu Sara schickt; dann kömmt er selbst; er will dem Sohn verzeihen, ihn mit sich nehmen und von dem Unglauben bekehren. Das alte Verhältnis wieder anzuknüpfen und von der Freigeisterei Clerdon zum Glauben zurückzuführen, ist Granvilles und Amaliens Zweck, als sie dem Entflohenen nachreisen. Carl zur 'Tugend und Religion' zurückzubringen, bemühen sich die Mutter und Grandfeld im Drontheim, die Flucht Carls wird hier verhindert. Den Sohn aus seinem schlimmen Leben herauszureissen und in die Einfachheit der väterlichen Hütte zurückzuführen, beabsichtigen die Eltern im Johann Faust; denn auch dieser war geflohen und lebte fern von der Heimath. Und so verfällt auch die Heldin in Sturzens Julie auf den Gedanken, dem väterlichen Hause zu entfliehen: eine energische Handlung, welche den Vater augenblicklich zu Nachgiebigkeit und Versöhnung zwingt; er lässt ihr nachsetzen, sie kehrt zurück und die Ehe mit ihrem Geliebten wird ihr in Aussicht gestellt.

Der Vater in der Miss Sara strebt Versöhnung an; er will das zerrissene Familienband wieder herstellen und das Glück seiner Tochter begründen; alle diese Stücke führen uns in das Familienleben ein, der Rhynsolt macht die einzige Ausnahme. Das ruhige Verhältnis ist entweder zerstört oder ist in der Zersetzung begriffen und es wird Versöhnung angestrebt. Im Eduard wird sie erreicht; beide Liebenden finden ihre Eltern wieder und der Streit zwischen ihnen selbst findet seine Erledigung; Weisses Amalia trägt schon auf dem Titel die Bezeichnung Lustspiel; auch der Bankerot von Dusch führt zu friedlicher Lösung in der durch blinden Lärm aufgeregten Familie; in den Lissabonnern, in der Julie, in Amalia, in Miss Fanny, in dem Nachspiel Jenny trauert der Vater wie in der Miss Sara über seine todte oder wahnsinnige Tochter; im Drontheim die Mutter über den ermordeten Sohn; in der Woodvil, im Renegaten fallen die Väter durch die Hand ihrer Kinder; Unglück und Schmerz lastet schwer über allen Familien, deren Schicksal uns vorgeführt wird.

Das bürgerliche Trauerspiel muss in den meisten Fällen <Seite 95:> nothwendig zu einem Conflict des einzelnen mit der staatlichen Gewalt führen. Die Bestrafung durch den weltlichen Richter, Gefängnis oder Galgen steht im Hintergrunde der Handlung und die Organe der Gerechtigkeit selbst können oft schwer vermieden werden.

Lessing ist diesem Momente, welches gerade in seinem Vorbilde, in Lillos Kaufmann von London so peinlich hervortritt, mit ziemlichem Glück entgangen; nicht so die übrigen Dramen. Im Freigeist kommen Clerdon und Henley eher ums Leben, als die weltliche Macht eingreifen kann; aber Clerdon wird die Flucht vor derselben nahe gelegt und wie sie im Leben seines Vaters und vorher in sein eigenes eingriff, wird uns ausführlich dargestellt. In den Lissabonnern entflieht Sir Carl auf seinem Schiffe vor den nacheilenden Häschern; im Eduard spielt der letzte Act vor dem Friedensrichter: Eduard ist bereits zur Gefängnisstrafe verurtheilt, wird aber dann noch freigesprochen; in Brandes' Olivie erscheint der Offizier mit der Wache auf der Bühne und im Rhynsolt werden uns zwei Hinrichtungen in einer Nacht vorgeführt. Im Bankerot von Dusch tritt der Gerichtsbediente auf, um die Siegel an die Schlösser anzulegen; in Miss Fanny ist die Verwicklung darauf gebaut, dass der geschehene Mord sogleich von den Gewalthabern bestraft wird; in Amalia III. 6 gibt Sanville wenigstens vor, dass die Wache da sei, um Amalia auf Befehl des Grafen abzuholen und nur dadurch bewegt er sie, ihm zu folgen. Also überall ist der äussere Zusammenstoss mit dem Gesetze vorhanden; diesen zu vermeiden oder besser gesagt, diesen nicht in seiner nackten Wirklichkeit darzustellen, ist auch dem späteren bürgerlichen Trauerspiele selten gelungen.


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[1] Berlin und Leipzig 1776.

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[1] Man meinte wohl auch, das See- und Handelsvolk könne am leichtesten in fremde Länder gelangen. So sind auch in dem Trauerspiele Osmin und Fatime oder die Ueberraschung (Leipzig 1783) die Helden geborene Engländer, und Osmin findet in dem Admiral Richardson seinen Vater.


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