Hohl, Christian David: Der XVI. Brief. Von den tragischen und komischen Dichtern der Deutschen. In: Kurzer Unterricht in den schönen Wissenschaften für Frauenzimmer. Zweyter Theil. Chemnitz: Johann Christoph Stößel 1772. S. 398–492, hier S. 465–473.
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Auch durch den Tod des Herrn von Brawe hat die tragische Bühne ein Genie verlohren, das gewiß bey reifern Jahren, derselben viel Ehre gemacht haben würde. Seine beyden Trauerspiele Brutus und der Freygeist zeugen von seinen treflichen Talenten. Ich habe diesen jungen Dichter persönlich gekannt, und mich oftmals von der theatralischen Dichtkunst mit ihm unterredet. Er hatte eine überaus große Kenntniß der Alten, und schätzte besonders die Werke eines Euripedes sehr hoch. Sein Trauerspiel, der Freygeist, stritt
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damals mit dem Cronegkischen um den Preiß, und erschien mit jenem zugleich, im Drucke.
Ich will Ihnen einen kurzen Inhalt davon herschreiben:
Henley, ein niedriger Freygeist, wird über die Tugenden und glänzenden Vorzüge eines Clerdon eifersüchtig, besonders, da ihm derselbe bey der Anwerbung der Miß Amalia Granville, vorgezogen wird. Henley sinnt auf Rache. Er sucht den Clerdon durch seine Verführung nicht nur zu einen Wollüstling und Lasterhaften, sondern auch zu einen Religionsspötter zu machen. Dieser erschreckliche Anschlag gelingt ihn. Er reißt den Clerdon aus dem Schooße seines Vaters, und macht, daß er sich gleich ihm allen Ausschweifungen eines zügellosen Lebens überläßt. Blindlings folgt Clerdon seinem Führer in allem. Granville nebst seiner Schwester Amalia, hat den Ort erfahren, wo sich Clerdon aufhält, er kommt ihn zu retten, seinem verfallenen Glücke wieder aufzuhelfen, und ihn mit seiner Schwester zu verbinden. Clerdon ist schon im Begriffe den Vorstellungen seines Freundes zu folgen, als ihm Henley erst überredet, daß er den
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Vorstellungen [die Kustode sagt »Ver-«stellungen] des Granville nicht Gehör geben solle; endlich aber ihn versichert, daß ihn Granville einen Brief überschicket, darinnen er ihn seine Schwester, nebst der Hälfte des väterlichen Vermögens anbiete. Dieser Umstand empört das Herz des Clerdon und erweckt ihn zur Rache; die doch gänzlich würde verschwunden seyn, wenn ihm nicht Henley versichert hätte, daß als Granville mit seiner Schwester von ihm gekommen, so habe sein vermeinter Freund zu ihm gesagt; daß er diese Unterredung mit dem Clerdon in Gegenwart seiner Schwester um deßwillen angestellt habe, um ihn nur destomehr einzuschläfern und nichts unrechts von ihm argwohnen zu laßen. Clerdon voller Wuth und Rache, eilt dem Granville, der im Garten gegangen war, nach; nöthiget ihn den Degen zu ziehen, und verwundet ihn tödtlich, da derselbe vorher zweymal den tödlichen Stoß von seiner Brust hinweg gewandt hatte. Granville verzeiht den Clerdon sterbend; und beweißt ihm nachdrücklich, daß Henleys Vorgeben nichts als schwarze Verleumdung gewesen sey. Schon vorher hatte Granville den Clerdon, nebst seiner Schwester, zum Erben seines ganzen Vermögens eingesetzt;
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und befiehlt es den Clerdon, daß er sie als Gemahl besitzen solle. Granville stirbt mit der Freudigkeit eines Christen, seegnet seinen Mörder; nennt ihn noch mit stammelnder Stimme seinen Freund; und bittet ihn, daß er ein Christ seyn solle. Clerdon steht voller Verzweiflung starr und sprachlos; und blickt auf den entseelten Leichnam seines Freundes, er stößt die heftigsten Verwünschungen wider sich selbst aus; da unterdessen Amalia zu ihm kommt, und seinen Beystand verlangt. Amalia entdeckt ihm, daß ihr bester Bruder, durch die Hand eines Bösewichts entseelt worden sey; ohne es zu wißen, daß sie selbst, mit dem Mörder desselben spricht. Clerdon sagt ihr, ohne Umschweife, daß er selbst der unseelige Mörder ihres Bruders, seines besten Freundes sey. Amalia kann sich das nicht vorstellen, und glaubt bloß, daß seine zerrüttete Phantasie ihm dieses eingebe; doch Clerdon versichert sie von der Gewißheit seines Verbrechens, so, daß sie nun nicht mehr daran zweifeln kann. Sie sagt zum Clerdon: »Dieser unglückliche Zufall hebt alle Verbindungen zwischen uns auf. Ich eile, mich einer beständigen Einsamkeit zu widmen, und den Bruder und Geliebten zu beweinen, die mir
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beyde ein neidisches Geschickt auf einen Tag beraubt hat.« Clerdon geräth außer sich, und beschließt zu sterben; Amalia aber bittet ihn mit Thränen, daß er leben solle, seine Verbrechen zu beweinen, und einen Gott zu versühnen, den er so sehr beleidiget habe. Sie entfernet sich von ihm, und Clerdon sagt: »Ich ihn versöhnen? Raserey wäre es, dies zu hoffen. Nicht Gnade, nur Verzweiflung wartet meiner – Ich fühle deine tödtenden Gerichte, Ewiger. Ach unerträglich donnern sie auf mich herab – und nur zu sehr habe ich sie verdient – Deine beleidigte Religion ruft dich zur Rache – Sie muß wahr seyn, diese Angst, diese brennende Verzweiflung, die in mir wütet, lehrt es mich – Ja, sie fallen, die unseligen Hüllen, die meine Augen bisher gefangen hielten – Graunvoller Anblick! Ganz entdecke ich die entsetzliche Bahn der Frevel, auf die ich mich verirrte – Wider eine Religion wagte ichs mich zu empören, in deren Schoos ich nichts als Freude und Zufriedenheit genoß! Einen Schöpfer beleidigte ich verwegen, den ich bisher nur durch Wohlthaten gekannt hatte! Spöttereyen über das, was mir das Heiligste hätte seyn sollen, strömten von meinen Lippen –
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die liebenswürdigsten Tugenden gab ich für die erniedrigende Wollüste auf, und öffentlich – Hier ergreift mich Schauer und Verzweiflung – öffentlich erfrechte ich mich, ein Feind GOttes und der Religion zu seyn, öffentlich ihnen den Krieg anzukündigen – Und wie manchen rissen vielleicht meine unsinnigen Reden zu gleichem Aufruhr fort! Welch entsetzliches Weh wird die zerstörte Tugend über mich ausrufen! Welche Verwünschungen müßen sich auf mein Haupt häufen! Du bist gerecht, Religion; so bald du mich, göttliche Führerin verließest, ward jeder Schritt ein Frevel – jede meiner Thaten spricht das Todesurtheil über mich aus, jede fordert eine Hölle – Ich sehe den gräßlichen Abgrund zu meinen Füssen sich aufthun. Ich sehe die Qualen vor meinen Augen sich verbreiten, die mir die Zukunft aufbehält. Schon rüstet sich ewige Nacht mit ihren Schrecknissen mich zu überfallen. Du Elend, wirst künftig meine Heimath, du Verzweiflung, mein Geschäfte, und mein ganzes Empfinden, Pein seyn. – Tage des Gerichts, der Rache und des Jammers, ich segne euch entgegen! Ihr rechtfertige den Himmel, ihr straft einen Verruchten, den die Natur mit
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Entsetzen erblickt. Ihr werdet unsterbliche Qualen auf mich häufen, und doch das Maaß der Gerechtigkeit nicht ausfüllen – Ich höre deine Stimme; fürchterliche Ewigkeit – du rufst mir – hier empfange dein Opfer, (er zieht einen Dolch hervor, und will sich tödten) – Doch, was thue ich? O Tod! ich wage es, dich zu wählen! – Schwindelnder Abgrund! – Bewahrer furchtbarer Geheimnisse! – Wege des Lebens und des Verderbens öfnen sich hinter deinen Pforten, und die Unendlichkeit ist ihr Maaß – ich wage es dich zu wählen! ich wage es mich freywillig in die Arme eines allmächtigen Richters zu stürzen! Vernichtender Gedanke! ewig von ihm gehaßt, ewig mit seinen unerträglichen Gerichten belastet zu seyn! – So muß ich denn leben! – nein, dieß kann ich nicht. Diese nagende Angst, diese namlose Pein, vermag ich nicht zu ertragen – Doch wird sie der Tod enden? wird er sie nicht verdoppeln? – Ich Elender! wohin kann ich flüchten? Uiberall ist Abgrund. Das Leben ist eine Hölle, und der Tod auch – Doch vielleicht ist der Tod Vernichtung – Eitler Trost! Dieses klopfende Herz, diese Angst, dieser Schauer, alles widerspricht dir.
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Ich empfinde es, daß ich zu ewigen Martern geschaffen bin, daß ein ewiger Richter – Wehe mir! ich sehe ihn kommen – ja ich trüge mich nicht, diese furchtbare Herrlichkeit, dieser verzehrende Glanz, dieß Entsetzen der Natur verkündigt ihn. Wohin entflieh ich? Unwiderstehliche Schrecknisse rauschen vor ihm her. Seine Blicke sind Tod. – Flammen und Ungewitter toben auf allen Seiten um mich her – Itzt gebeut er dem Verderben mich zu schlagen – jetzt ergreift mich sein Donner – o Erde, decke mich vor ihm! o Vernichtung, komm über mich! –«
Hier unterbricht ihn Truworth sein alter Bedienter, und sagt ihm, daß er auf Befehl der Miß Granville komme; ihn in seinen traurigen Umständen beyzustehen. Clerdon eröfnet den Truworth, der es noch nicht wußte durch welche Hand Granville gefallen, daß er der Mörder seines Freundes sey. Truworth entschließt sich aus Liebe, sein Leben für seinen Herrn zu laßen, und sich als Mörder des Granville anzugeben. Clerdon will dieses nicht geschehen laßen, sondern sagt ihn, daß er alles zu seiner Abreise fertig halten sollte. Henley kommt und findet den Clerdon in der
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traurigsten Verfaßung; der, als er ihn erblickt, wüthend auf ihn losgeht; und das Blut des Granville von seinen Händen fordert. Henley sagt: er komme um deßwillen her, es ihm zu entdecken, daß er nun seine ganze Rache befriediget habe. Clerdon hört nun die allererschrecklichsten Thaten aus dem Munde des Henley, die er nimmermehr, wenn sie ihm ein anderer gesagt hätte, geglaubet haben würde. Mit dem Dolche in der Hand eilt Clerdon auf seinen Verderber los, stößt ihm denselben in die Brust; und gleich darauf in sein eigen Herz; um sich dadurch zu bestrafen, daß er einen solchen Bösewicht Gehör gegeben. So endiget sich das Stück.
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