Moses Mendelssohn: An Lessing. 2.3.1757. In: Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Band 19. Hg. von Karl Lachmann. Dritte, aufs neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. Leipzig: Göschen 1904. S. 68-69.
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Berlin, den 2. März 1757.
Ich habe auf Ihren letzten Brief noch nicht geantwortet. Wissen Sie aber, warum? Ich muß erst wissen, was Sie von Ihrem sehr schönen Grundsatze für Gebrauch machen wollen. Sie haben vollkommen Recht. Das Vermögen, Vollkommenheiten zu lieben, und Unvollkommenheiten zu verabscheuen, ist eine Realität, und also eine Vollkommenheit. Die Ausübung derselben muß uns also nothwendig Vergnügen gewähren. Schade, daß mir diese feine Betrachtung unbekannt war, als ich meine Briefe über die Empfindungen geschrieben. Du Bos und ich haben viel von der Annehmlichkeit der nachgeahmten Vollkommenheiten geschwatzt, ohne den rechten Punkt getroffen zu haben. Wollen Sie aber aus diesem Satze irgend Folgen ziehen? Versprechen Sie sich einigen Nutzen davon in unsrer Streitsache? Dieses muß ich wissen, und zwar bald, damit wir näher zum Zwecke schreiten können. Wir führen Kriege, lieber Lessing, die ohne Ihren Schaden für mich sehr vortheilhaft sind. Wir wollen sehen, ob die streitenden Mächte so viel reellen Nutzen von ihrem kostbaren Kriege haben werden.
Das Trauerspiel, der Freygeist, habe ich gelesen. Mit Nächstem
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melde ich Ihnen mein Urtheil darüber. Einige Situationen haben mir ungemein gefallen; aber mit dem Titel bin ich nicht zufrieden. In dem allgemeinen Charakter des Freygeists liegt nichts weniger, als der Grund zu so vielen Gottlosigkeiten. Sie verstehn mich schon, daß dieses kein Tadel an der Ausführung des Charakters ist: denn wer wollte die poetische Möglichkeit eines solchen Charakters in Zweifel ziehen? Aber der allgemeine Titel erweckt Schaudern.
Ich bin Ihnen noch die Widerlegung des Hrn. Prof. Aepinus, meiner Abhandlung von der Wahrscheinlichkeit, nebst meiner Beantwortung schuldig. Ich glaube immer noch, ich habe Recht, ob mir gleich Hr. Aepinus die Gegenantwort nicht schuldig geblieben ist. Der Mann ist ein hitziger Widersacher Wolfens, und ein Partisan des Aequilibrii indifferentiae. Es schmerzt ihn, den Satz des zureichenden Grundes, in Ansehung der freywilligen Handlungen des Menschen, auf eine so neue Art bewiesen zu sehen.
Leben Sie wohl, und fahren Sie fort, mich zu lieben. Ich bin
Ihr
wahrer Freund
Moses.
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