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Lessing, Gotthold Ephraim: An Friedrich Nicolai. 21.1.1758. In: Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Band 17. Hg. von Karl Lachmann. Dritte, aufs neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. Leipzig: Göschen 1904. S. 132-134.

<Seite 132:>

88. An Friedrich Nicolai.

Leipzig, d. 21. Januar 1758.

Liebster Freund,

Ich bin in dem, was Sie von dem Codrus und Freygeiste sagen, größten Theils Ihrer Meynung; besonders ist es völlig richtig, was Sie von der Schreibart und den Charakteren des letztern sagen. Ertheilen Sie also immer dem Codrus den Preis. Aber haben Sie schon gehört, daß der Verfasser desselben, der Herr von Cronegk, vor einigen Wochen an den Blattern in Nürnberg gestorben ist? Es ist wirklich Schade um ihn; er war ein Genie, dem bloß das fehlte, wozu er nun ewig nicht gelangen wird: die Reife. Da Sie unterdeß eigentlich nicht wissen sollten, daß er der Verfasser des Codrus gewesen, so darf Sie sein Tod auch nicht abhalten, sein Stück zu krönen. Und hieraus kann der vortheilhafte Umstand für Ihre Bibliothek entstehen, daß sie den jetzigen Preis zu einem zweyten schlagen, und das nächstemal 100 Rthlr., wenn Sie wollen, aussetzen können. Allein alsdann wäre meine Meynung, daß es <Seite 133:> nochmals bey einem Trauerspiele bleiben müßte. Unterdeß würde mein junger Tragikus fertig, von dem ich mir, nach meiner Eitelkeit, viel Gutes verspreche; denn er arbeitet ziemlich wie ich. Er macht alle sieben Tage sieben Zeilen; er erweitert unaufhörlich seinen Plan, und streicht unaufhörlich etwas von dem schon Ausgearbeiteten wieder aus. Sein jetziges Sujet ist eine bürgerliche Virginia, der er den Titel Emilia Galotti gegeben. Er hat nehmlich die Geschichte der römischen Virginia von allem dem abgesondert, was sie für den ganzen Staat interessant machte; er hat geglaubt, daß das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werther ist, als ihr Leben, für sich schon tragisch genug, und fähig genug sey, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch gleich kein Umsturz der ganzen Staatsverfassung daraus folgte. Seine Anlage ist nur von drey Akten, und er braucht ohne Bedenken alle Freyheiten der englischen Bühne. Mehr will ich Ihnen nicht davon sagen; so viel aber ist gewiß, ich wünschte den Einfall wegen des Sujets selbst gehabt zu haben. Es dünkt mich so schön, daß ich es ohne Zweifel nimmermehr ausgearbeitet hätte, um es nicht zu verderben. Was meinen Plan von einem Codrus anbelangt, so müssen Sie mir acht Tage Zeit lassen, um mich wieder auf alles zu besinnen; man schickt nicht Plane zu Tragödien, oder gar Tragödien selbst, mit erster Post. Und Gott weiß, ob ich mich wieder auf alles besinnen werde, ohne den Cronegkschen Codrus dabey zu haben. Freylich hat er ganz unnöthige Erdichtungen mit eingemischt, die Sie am besten aus Jo. Meursii regno attico sive de regibus Atheniensium lib. III. cap 11. und folgenden, entdecken werden, wo alles, was die alten Geschichtschreiber von dem Tode des Codrus melden, gesammelt ist.

Das neue Stück der Bibliothek ist fertig, und Sie werden es wohl unterdessen erhalten haben. Ich wundre mich, daß Ihnen meine Recension vom Theokrit zu boshaft vorgekommen ist. Da man es aber in Berlin weiß, daß ich sie gemacht habe, so werden Sie sich desto eher gegen Herrn Lieberkühn entschuldigen können. In Ansehung der alten <Seite 134:> Schriftsteller, bin ich ein wahrer irrender Ritter; die Galle läuft mir gleich über, wenn ich sehe, daß man sie so jämmerlich mißhandelt.

Hiermit Gott befohlen! Leben Sie wohl, mein lieber Nicolai!

Lessing.


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