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Lessing, Gotthold Ephraim: An Moses Mendelssohn. 18.2.1758. In: Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Band 17. Hg. von Karl Lachmann. Dritte, aufs neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. Leipzig: Göschen 1904. S. 137-140.

<Seite 137:>

91. An Moses Mendelssohn.

Liebster Freund!

Ich bin krank gewesen, und befinde mich noch nicht recht wohl; sonst würde ich Ihnen schon längst wieder geschrieben haben. Ich will nicht wünschen, daß Sie eine gleiche Entschuldigung haben mögen.

Meine Uebersetzung des bewußten englischen Buchs ist größtentheils fertig, noch ist aber nichts davon gedruckt. So wie ein Bogen abgedruckt ist, werde ich ihn Ihnen zuschicken. Und alsdenn schreiben Sie mir fein alles, was Sie davon oder dabey gedacht haben. Es kommen, wie Sie finden werden, sehr schöne Anmerkungen darinn vor; allein das ganze Gebäude taugt nichts. Der Verfasser sagt: alle unsre Leidenschaften theilten sich in zwey Hauptäste; in Leidenschaften, welche die Selbsterhaltung beträfen, und in Leidenschaften, die auf das gesellschaftliche Leben <Seite 138:> zielten. Die erstern, weil ihre Gegenstände nur Schmerz und Gefahr wären, würden zur Quelle des Erhabnen; und die andern, die sich auf Liebe gründeten, zur Quelle des Schönen. Was sagen Sie zu diesem System? Daß der Verfasser einen sehr seltsamen Begriff von der Seele haben müsse. Den hat er auch. Die Leidenschaften sind ihm etwas, das Gott so in unsre Seele gelegt hat; etwas, das nicht aus dem Wesen der Seele, aus einer gewissen Gattung von Vorstellungen entspringt; sondern etwas, das Gott dem Wesen der Seele obendrein gegeben habe. Eine Menge Empfindungen, sagt er, entstehen blos aus der mechanischen Struktur des Körpers, aus der natürlichen Bildung und Beschaffenheit der Seele, und gar nicht aus Folgen von Vorstellungen und Schlüssen derselben. So besitzt z. E. unsre Seele etwas, das er Sympathie nennt, und aus dieser Sympathie sind die Wirkungen herzuleiten, die das Unglück anderer, es mag wirklich oder nachgeahmt seyn, auf uns hat. – Das heißt ohne Zweifel sehr commode philosophiren! Doch, wenn schon des Verfassers Grundsätze nicht viel taugen, so ist sein Buch doch als eine Sammlung aller Eräugnungen und Wahrnehmungen, die der Philosoph bey dergleichen Untersuchungen als unstreitig annehmen muß, ungemein brauchbar. Er hat alle Materialien zu einem guten System gesammlet, die niemand besser zu brauchen wissen wird, als Sie.

Ich bin sehr begierig, Ihre mit dem Hrn. Nicolai gemeinschaftliche Kritik des Codrus und des Freygeists zu sehen. Der Verfasser des letztern hat jetzt einen Brutus gemacht, in Versen ohne Reime, der seinem ersten Versuche nicht ähnlich sieht. Bey der Correktur des Codrus, habe ich mich meines ersten Entwurfs zu einem Trauerspiele über diesen Helden größtentheils wieder erinnert. Ich würde die ganze Begebenheit in dem Dorischen Lager vorgehen lassen. Das Orakel müßte auf beyden Theilen bekannt seyn; und die Dorier müßten, dieses Orakels wegen, bereits seit einiger Zeit alle Schlachten sorgfältig vermieden haben. Aus Furcht, den Codrus unbekannter Weise zu ermorden, müßten sie in den kleinern Gefechten die Athenienser nur zu greifen, und keinen zu tödten suchen. Diese würden hierdurch natürlicher Weise eine große Ueberlegenheit gewinnen, und diese Ueberlegenheit könnte so weit gehen, daß die Dorier den ganzen Krieg aufzuheben und Attika zu verlassen gezwungen würden. Und von diesem Zeitpunkte würde sich mein Trauerspiel an- <Seite 139:> fangen. Codrus, würde ich nun weiter dichten, habe es erfahren, daß die Dorier sich zurück ziehen wollten, und fest entschlossen, sich die Gelegenheit, für sein Vaterland zu sterben, nicht so aus den Händen reißen zu lassen, habe er sich verkleidet in das Lager der Dorier begeben. Hier giebt er sich für einen Megarenser und heimlichen Feind von Athen aus, und findet Gelegenheit, den Feldherrn der Dorier zu überreden, daß die Athenienser das Orakel bestochen hätten, um ihnen eine so sonderbare Antwort zu ertheilen, durch die sie ihre Feinde zu schonen sich gemüßiget fänden. Der Dorische Feldherr, der schon seinem Charakter nach eben so ungläubig ist, als sein Herr abergläubig, beschließt hierauf, alle gefangne Athenienser auf einen Tag umbringen zu lassen, und den Krieg fortzusetzen. Umsonst widersetzt sich ihm der Priester, der das Orakel geholt, und zeigt ihm die Mittelstraße, die er zwischen der übermäßigen Furcht des Pöbels und der gänzlichen Verachtung des Götterspruchs halten solle. Er beharrt auf seinem Entschlusse, in welchem ihn der verkleidete Codrus zu bestärken weiß. Der beleidigte Priester schlägt sich also auf die Seite derer, die lieber zu viel als zu wenig glauben, und bringt den gemeinen Soldaten auf, der den Rathgeber, den verkleideten Codrus, in der ersten Hitze des Aufruhrs ermordet. Und indem es nun bekannt wird, daß ihre Wuth das Orakel erfüllet, haben die Atheniensischen Gefangnen, deren nach meiner Anlage eine große Anzahl seyn können, sich in Freyheit gesetzt, und richten unter den Doriern eine so schreckliche Niederlage an, daß sie die Flucht ergreifen müssen. – Was sagen Sie von diesen ersten Zügen? Man müßte sehr unfruchtbar seyn, wenn man nicht ohne alle Episoden, fünf Aufzüge darnach vollmachen könnte. Die meiste Kunst würde darinn bestehen, daß die Person des Codrus immer die vornehmste bliebe, und daß die verstellte Rolle, die er spielt, seinem Charakter und seinem edlen Vorsatze nicht nachtheilig würde. Wenn Sie und Herr Nicolai etwas Gutes in diesem Entwurfe finden, so will ich ihn, weiter und besser ausgeführt, seiner Kritik an einem bequemen Orte mit einrücken. So scheint er noch ein wenig kahl.

Wegen des Hrn. von Cronegk sagen Sie nur Hrn. Nicolai, daß es hier eine längst bekannte Sache sey, daß niemand, als dieser junge Baron, der Verfasser des Codrus sey. Es befinden sich hier eine ziemliche Anzahl von seinen Freunden, auf die er sich kühnlich deswegen berufen kann.

<Seite 140:>

Wir wird es mit dem Portrait zu dem dritten Bande werden? An das Portrait des Hrn. von Kleist ist gar nicht zu denken.

Leben Sie wohl, liebster Freund, und schreiben Sie mir doch ja fein bald, und fein viel, damit unser Briefwechsel wieder in sein altes Gleis komme. Nun wird er zwar am längsten gedauert haben.

An Hrn. Nicolai will ich nächstens umständlich schreiben. Ich bin

ganz der Ihrige
Lessing.

Leipzig,
den 18. Febr. 1758.


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