Friedrich Nicolai: Der Kaufmann von London [Rezension]. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste. 1. Band, 1. Stück. Leipzig: Dyck 1757. S. 161-168. (Faksimile hier.)
|
<Seite 161:>
The London-marchant or the history of George Barnwell – by Mr. Lillo, the ninth edition with Several additions and improvements by the author. London printed for Henry Lintot 1754. 70 Seiten in Octav.
das ist:
Der Kaufmann von London, oder die Geschichte George Barnwells – von Herrn Lillo, die neunte Auflage durch den Verfasser an verschiedenen Stellen vermehret und verbessert.
Die wenigsten unter unsern Lesern werden wissen, daß dieses engländische, gleichsam zum Trotz der Regeln verfertigte Trauerspiel, nicht nach der engländischen Urkunde, sondern nach der französischen Uebersetzung, welche Herr Clement vor ohngefehr acht Jahren herausgegeben hat, auf unsern Schauplätzen aufgeführet wird. Der Uebersetzer ist, nach Art der meisten Uebersetzer von seiner Nation, mit der Urkunde sehr frey umgegangen;
<Seite 162:>
und ob wir zwar nicht läugnen wollen, daß sie nicht dabey zuweilen sollte gewonnen haben, so glauben wir doch, daß sie noch öfter dabey verlohren habe. Es würde zu viel Raum erfordern, wenn wir eine Vergleichung anstellen wollten; aber ob es gleich wahrscheinlich ist, daß die Uebersetzung, die einmal auf unsern Schauplätzen angenommen ist, auf denselben bleiben werde, so würde doch vermuthlich vielen Liebhabern ein nicht unangenehmer Dienst geschehen, wenn sich jemand die Mühe nehmen wollte, dieses Stück genau nach der Urkunde zu übersetzen.
Man wird bey der Einsicht in die engländische Urkunde verschiedene kleine Unrichtigkeiten gewahr werden, welche sich in die französische, und aus dieser in die deutsche Uebersetzung geschlichen haben. Man wird sehen, daß der Verfasser dieses Stücks nicht Tillo, sondern Lillo heiße; daß die Benennung bürgerliches Trauerspiel ein Ausdruck des Franzosen sey, der in der Urkunde nicht angetroffen wird. Man wird wissen, wo der wunderliche Name Sorogoud herkömmt, wenn man sieht, daß er im Engländischen Thorowgood (Durchausgut) lautet. Hauptsächlich aber sieht man, daß es nicht des Verfassers Meynung gewesen ist, die Hinrichtung der beyden Unglücklichen am Ende wirklich auf dem Schauplatze geschehen zu lassen. Es kann zwar möglich seyn, daß man auf einigen engländischen Schaubühnen dem Volke dieses Specktakel hat machen wollen, aber des Verfassers Wille ist es gewiß nicht gewesen, sonst würde er es unstreitig in dem Abdruck angezeigt haben. Es ist vielmehr sehr
<Seite 163:>
wahrscheinlich, daß, da das Gerichte nur in der Ferne zu sehen ist, indem die Verurtheilten dahin geführt werden, der Vorhang zufällt. Da die letzte Scene, welche sich hierauf bezieht, in der französischen und also auch in der deutschen Uebersetzung weggeblieben ist, so hoffen wir, daß es unsern Lesern nicht unangenehm seyn wird, sie hier übersetzt zu lesen.
Letzter Auftritt:
Der Richtplatz. In der Ferne ist das Gericht mit einer angelegten Leiter zu sehen. Eine große Menge von Zuschauern und unter denselben Blunt und Lucy.
Lucy. Himmel! was für ein Gedränge!
Blunt. Wie schrecklich ist der Tod, wenn diese Vorbereitungen vorhergehen!
Lucy. Gott! hilf ihnen; du allein kannst ihnen helfen; alle andere Hülfe ist vergeblich!
Inwendig wird gerufen: Platz! Platz! laßt die Gefangenen durch!
(Barnwell und Milwood zwischen der Wache, nebst dem Nachrichter treten auf.)
Lucy. Hier sind sie, siehe sie einmal an; wie sanftmüthig und ruhig sieht Barnwell nicht aus! Aber Milwood sieht wild aus, voller gewaltsamen Bewegungen, verwirrt und außer sich selbst.
Barnwell. Siehe, Milwood, siehe unsere Reise endiget sich. Das Leben ist dahin gegangen, wie ein Märchen, das man erzählet hat. Der Tod, dieser kurze aber dunkle und unbekannte Weg, ist der einzi-
<Seite 164:>
ge Unterschied zwischen uns und zwischen ewiger Freude oder ewigen Schmerzen.
Milwood. Ist dieß das Ende aller meiner schmeichelnden Hoffnungen? Waren mir Jugend und Schönheit zu meinem Schaden gegeben, und Verstand bloß um meinen Untergang dadurch zu befördern? Ja! Ja! so war es! Himmel, du hast das äußerste angewandt, mich zu verderben. Oder hast du noch eine Qual, die ich noch nicht versucht habe – etwas das Schrecklicher ist, als Schande, Verzweiflung und Tod – unbedauerten Tod, vorgesetzte Verzweiflung und seelenverwirrende Schande; – etwas das Menschen und Engel nicht zu beschreiben vermögen, und nur verworfne, die es empfinden, gedenken können; – hast du noch so etwas, so schleudere es jetzt auf dieses dargebotene Haupt, damit ich das bitterste fühlen möge, womit du zu peinigen vermagst, und deiner äußersten Macht Trotz bieten kann.
Barnwell. Aber ehe wir in den schrecklichen Weg des Todes treten, ehe du von ewigwährendem Wehe verschlungen wirst, o so neige deine starren Knie und dein härteres Herz, um demüthig den göttlichen Zorn zu verbeten. Wer weis, ob nicht vielleicht der Himmel in deinen Todesstunden dir die Gnade und Vergebung schenken wird, welche du in deinem Leben verachtet hast!
Milwood. Warum gedenkst du der Vergebung gegen einen Elenden, wie ich bin – ich hoffe nicht Vergebung – ja – ich wünsche sie nicht. Ich kann nicht Buße thun, und verlange keine Vergebung.
<Seite 165:>
Barnwell. O, bedenke, was es auf sich habe, ewig! ewig unglücklich zu seyn! und widersetze dich nicht mit eitlem Stolz einer Macht, die dich vernichten kann.
Milwood. Ja, sie wird mich vernichten, ich fühle es! – Eine Fluth von Qual stürzt auf meine Seele. – Ketten! Finsterniß! Foltern! scharfe stechende Scorpionen! heißes schmelzendes Metall! Schwefelmeere! – alles ist gelinder als das, was ich fühle.
Barnwell. O, füge nicht zu der schweren Rechnung deiner Sünden noch die Verzweiflung hinzu – – die Sünde, welche unter allen die du begangen, dem Himmel am mißfälligsten ist.
Milwood. O, meine Sünden sind zu groß, als daß sie mir könnten vergeben werden.
Barnwell. Sage das nicht! du lästerst Gott, wenn du solche Gedanken hegest! – So viel der Himmel höher ist als die Erde, um so viel und noch mehr übersteigt die göttliche Gütigkeit unsere Erkenntniß – Welches erschaffene Wesen darf sich unterstehen der unendlichen Barmherzigkeit Schranken zu setzen!
Milwood. Sollte mir dieß Hoffnung geben? Die Barmherzigkeit sey immer grenzenlos – aber nicht für mich! Ehe die Welt war, war ich bestimmt zu ewiger Qual, und du zu ewigen Freuden.
Barnwell. O, gütiger Himmel, breite deine Gnade über sie aus! Laß deine reiche Vergebung in vollen Strömen auf sie fließen, vertreib ihr Schrecken und heile ihre verwundete Seele.
<Seite 166:>
Milwood. Nein! es wird nicht geschehen. Deine Gebete sind ohne Kraft, oder bringen dir nur vielleicht doppelten Segen; mir helfen sie nicht.
Barnwell. Aber höre mich, Milwood.
Milwood. Weg – ich will dich nicht hören: Ich sage dir, Jüngling, ich bin von dem Himmel zu einem schrecklichen Beyspiel seiner Strafgerechtigkeit aufbehalten (Barnwell scheint zu beten). Willst du beten? – bete für dich selbst, nicht für mich – Wie hebt sich seine brünstige Seele mit seinen Worten, und beyde steigen gen Himmel! Zum Himmel, dessen Pforten für meine Gebete unauflöslich verschlossen wären, wenn ich beten wollte. – Nein, das kann ich nicht ausstehen. – Ach, es ist die schrecklichste Pein, andere das Glück genießen zu sehen, das wir selbst niemals schmecken dürfen.
Der Aufseher. Die Zeit, die euch gegeben ist, ist völlig verflossen!
Milwood. Mit Schrecken umgeben – Wohin soll ich gehen? Ich mag nicht leben – nicht sterben – O, könnte ich aufhören zu seyn – oder wäre niemals gewesen.
Barnwell. Weil ihr Friede und Trost hier versaget werden, so möge sie Gnade finden, wo sie es am wenigsten erwartet, und die Pein, die sie hier gelitten hat, sey ihr statt der Hölle. An unserm Beyspiele kann jedermann lernen, den ersten Anblick des Lasters zu fliehen; wird er aber durch Versuchung, Schwachheit und Uebereilung dahin gerissen, so beklage er seine Schuld, und erhebe sich wieder durch die Reue. Bloß der Unbußfertige stirbt ohne Verge-
<Seite 167:>
bung: sündigen ist menschlich, vergeben aber ist die Art des Himmels.
(Truemann tritt auf.)
Lucy. Herzbrechender Anblick! O elende, elende Milwood!
Truemann. Wie hat sie sich zu ihrem Schicksal vorbereitet?
Blunt. O! wer kann unaussprechliches Weh beschreiben?
Lucy. Sie geht zum Tode mit Schrecken umgeben, verfluchet das Leben und fürchtet den Tod: keine Zunge kann ihre Angst und Verzweiflung ausdrücken.
Truemann. Der Himmel wird es besser mit ihr machen als sie fürchtet. Sie wird eine Warnung für andere, für sich selbst aber ein Denkmaal der Barmherzigkeit seyn.
Lucy. O! unaussprechliche Angst! Brich! Brich mein Herz!
Truemann. Umsonst zeigen unsere blutende Herzen und weinenden Augen, daß wir auf eine edle menschliche Art anderer Unglück empfinden, wenn wir nicht zugleich die Ursach ihres Untergangs bemerken, und wann wir sie vermeiden, unserm eignen Untergang zuvorkommen.
Es ist nicht zu zweifeln, daß die Zuschauer etwas daran verlieren, daß dieser Auftritt auf den deutschen Theatern nicht mit aufgeführet wird. Bloß die ferne Vorstellung des Hochgerichts (die man aber
<Seite 168:>
allenfalls weglassen könnte) scheint den französischen Uebersetzer bewogen zu haben, diesen Auftritt zu unterdrücken. Uns dünkt, es würde nicht unschicklich seyn, wenn ihm ein deutscher Schauspieler seinen alten und verdienten Platz wieder einräumen wollte.
*
|