Adolf Gaspary: Ueber ein Gedicht Leopardi's. In: Im neuen Reich. Wochenschrift für das Leben des deutschen Volkes in Staat, Wissenschaft und Kunst. Hrsg. von Wilhelm Lang. Zehnter Jahrgang, 1880. Erster Band (Januar bis Juni), Leipzig: Hirzel 1880. S. 670-672.
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Ueber ein Gedicht Leopardi's.
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Bonaventura Zumbini hat sich in seinen früher veröffentlichten Schriften, den »Saggi Critici« (Napoli 1876) und den »Studi sul Petrarca« (Napoli 1878) als einen Kritiker von ungewöhnlicher Begabung offenbart; er vereinigt in sich zwei Eigenschaften, die selten bei einem Schriftsteller verbunden zu sein pflegen, nämlich die größte Feinheit des ästhetischen Gefühles und den geduldigen Fleiß der gelehrten Forschung. Beide Vorzüge zeigen sich auch wieder aufs glänzendste in seinem neuen Aufsatze; dieser ist nur ein Theil einer umfangreichen Arbeit über Leopardi, die der Verfasser seit Jahren vorbereitet, und deren vollständige Veröffentlichung die bekannt gemachten Proben in dieser Studie und den »Saggi Critici« sehr wünschenswerth erscheinen lassen.
Das Gedicht Leopardi's »An den Frühling oder von den Fabeln der Alten«, mit welchem sich Zumbini hier beschäftigt, ist entsprungen aus einem Gefühle, welches in den modernen Literaturen mannichfachen Widerhall gefunden hat, aus dem Gefühle der Wehmuth über den Untergang der bunten mythologischen Vorstellungen, mit denen dereinst sich der Mensch die Welt verschönte, der Natur um sich her Leben und Seele verlieh. Zumbini verfolgt die Aeußerungen dieser Empfindung bei den verschiedenen Dichtern, den Engländern Wordsworth, Keats, Shelley, den Deutschen Platen, Schiller, den Italienern Monti und Leopardi selbst, und diese seine Vergleichung ist fruchtbar und lehrreich; denn aus ihr tritt in klaren Zügen die Eigenthümlichkeit des italienischen Gedichtes hervor. Am nächsten unter diesen Klageliedern über den Tod der alten Fabeln stehen Leopardi's Canzone Schiller's Götter Griechenlands; die Aehnlichkeiten sind bedeutend, auch in Einzelheiten; aber die Grundstimmung in den beiden Productionen ist dennoch verschieden. Schiller glaubte an eine hohe ideale Bestimmung des Menschengeschlechtes, an die Unsterblichkeit der Gottheit in der Kunst, und die Kunst selbst erschien ihm als das höchste Gut unseres Daseins; Leopardi sieht die Zeiten, in denen die Phantasie den Menschen durch Erschaffung einer reichen überirdischen Welt zu trösten vermochte, unwiederbringlich verloren; sie waren das Jugendalter unseres Geschlechtes, welches mit erreichter Reife sein Theuerstes schwinden sah, und nur die kalte, trostlose Realität übrig behielt.
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Zumbini hatte schon früher, an einer Stelle seiner »Saggi Critici« in meisterhafter Art die stufenweise chronologische Entwickelung von Leopardi's Weltanschauung und damit die seiner künstlerischen Individualität dargestellt und den einzelnen Gedichten ihren Platz in den verschiedenen Epochen angewiesen. Die Canzone an den Frühling gehört der zweiten Epoche an, in welcher der Dichter das Leiden der Menschheit als einen Verfall, als Greisenhaftigkeit ansah, so daß er hier dem Elende seiner Zeit das einstige Glück entgegenstellte, während ihm erst später der Schmerz als das allgemeine und beständige Verhängniß der Creatur erschien. Das Glück der Vergangenheit waren die Illusionen, und diese theueren Illusionen treten ihm wieder vor die Seele; er hat wieder lebendig das Schauspiel vor Augen, wie es die Welt den Alten darbot, und er malt es in glänzenden Farben, mit eben jenen reichen und lachenden Bildern der klassischen Kunst; allein dieses Schauspiel hat für ihn seine Bedeutung verloren, die bleiche Wirklichkeit tritt mitten hinein und bringt einen schmerzlichen Contrast hervor. Der Dichter selbst fühlt sich von glühender Liebe ergriffen zu diesen Gestalten, welche seine Einbildungskraft ihm einen Augenblick zurückzurufen vermag, und er schildert begeistert die Welt der Alten in ihrer entzückenden Pracht; aber dazwischen klingt stets die Stimme des modernen Bewußtseins, daß das Alles vorüber und todt sei, bis endlich diese Stimme alles Andere übertönt, die Träume entfliehen und er sich allein und verlassen findet gegenüber der Einöde im Himmel und auf Erden. Dieses ist die eigenthümliche Situation, aus welcher die Dichtung Leopardi's hervorgegangen ist, und eigenthümlich ist ihr eine Meisterschaft der Kunst, wie sie die anderen Dichtungen über denselben Gegenstand nicht erreicht haben. Der Charakter dieser Kunst ist, wie Zumbini sagt, das Ergreifen des Wesentlichen in jedem Gegenstande und die Beschränkung, welche der Darstellung nicht mehr zumuthet, als sie verträgt, dem Object nur den Grad von Poesie abzugewinnen strebt, den es in sich birgt. Und hiezu kommt eine Mäßigung und Ruhe in der Aeußerung der Empfindung selbst, zu welcher Leopardi allgemach in der Entwickelung seiner Dichtung gelangte. Er nähert sich damit den Eigenthümlichkeiten und Vorzügen der griechischen Kunst, welche in keinem der verwandten Gedichte sich so vollkommen widerspiegelt wie in dem seinen, »so daß unter den vielen Stimmen, die an jene glückliche Zeit und die verlorene Jugend der Welt erinnern, diejenige Leopardi's fast selbst eine klassische Stimme zu sein scheint, die allein und trostlos übrig geblieben, an die theueren Verstorbenen zu gemahnen und sie zu beweinen.«
Zumbini hat mit feinem Sinne den innersten Geist von Leopardi's Dichtung enthüllt; seine geistvolle Untersuchung eröffnet uns den Blick in den zarten Organismus einer bedeutenden künstlerischen Schöpfung und verwan-
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delt in klare Erkenntniß, was sich in dem Leser des Gedichtes als dunkle Empfindung regt. So hat er die Aufgabe der ästhetischen Kritik gelöst. Zugleich aber ließ er, nach seiner Art, auch das Kleinste nicht unbeachtet; mit minutiöser Sorgfalt spürte er den Stellen der alten Dichter nach, die Leopardi's Ideen und Worte be[e]influßt haben, und die nun hier nicht als Apparat einer müßigen Erudition, sondern als treffendste Illustration der ästhetischen Untersuchung selber dienen, indem sie erkennen lassen, wie und in welchem Geiste die Formen der klassischen Kunst hier wiederbelebt sind.
A. Gaspary.
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B. Zumbini, Alla Primavera o Delle Favole Antiche, Canzone di Giac. Leopardi. Estratto del Giornale Napoletano. Napoli 1879.
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