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Alt, Peter-André: Das bürgerliche Trauerspiel als Charakterdrama. Brawes »Freigeist« (1758). In: Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung. Tübingen, Basel: Francke 1994. S. 222-234.

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3. Das bürgerliche Trauerspiel als Charakterdrama. Brawes »Freigeist« (1758)

Im Frühjahr 1756 schreibt Nicolais »Bibliothek für die Liebhaber der schönen Wissenschaften« einen Preis auf das beste Trauerspiel aus. [59] Unter den drei Einsendungen schätzt die zuständige Kommission Cronegks »Codrus« am höchsten ein, den zweiten Platz erkennt sie Brawes »Freigeist« zu, dem gegenüber Breithaupts »Renegat« als unausgereift und sprachlich fehlerhaft abgewertet wird. [60] Die Entscheidung der Preisrichter verrät äußerst traditionellen Geschmack: mit dem »Codrus« favorisiert man ein heroisches Drama, eine Alexandrinertragödie nach dem Muster der Gottsched-Schule, die den in Prosa gehaltenen Trauerspielen Brawes und Breithaupts einstweilen noch den Rang abläuft. Die Hierarchie entspricht den Wertmaßstäben von Nicolais »Abhandlung«, welche das heroische Drama dem bürgerlichen Trauerspiel deutlich vorgezogen hatte.

Brawes Drama wird 1758 im Anhang zum zweiten Band der »Bibliothek« abgedruckt und damit immerhin, anders als die Arbeit Breit- <Seite 223:> haupts, der Publikation für würdig gehalten. Der junge Autor selbst hat die Veröffentlichung seines Werkes und dessen späteren Bühnenerfolg nicht mehr erlebt; er stirbt, gerade zwanzigjährig, im April 1758, von den Zeitgenossen als ungewöhnliches poetisches Talent gewürdigt, das zu mancherlei Hoffnungen Anlaß gegeben hatte. [61] Daß Brawe über eine bemerkenswerte Sprachbegabung verfügte, beweist zumal sein zweites vollendetes Trauerspiel, der »Brutus«, der den heroischen Tragödientypus repräsentiert, dabei aber auf der formalen Ebene den Werken der Gottsched-Schüler deutlich überlegen ist. Auch der »Freigeist« besitzt, trotz seiner Ausrichtung am Prosastil des bürgerlichen Trauerspiels, lyrisch-pathetische Elemente, die man sonst eher in der heroischen Tragödie anzutreffen pflegt.

Als Charakterdrama führt Brawes Werk die Tradition von Schlegels »Canut« fort. Es unterwirft sich nicht dem aristotelischen Primat der Handlung, sondern rückt das menschliche Individuum ins Zentrum des Interesses. Während Lessing in der »Sara Sampson« bestrebt war, äußeres Geschehen und inneres Erleben der Figuren spannungsvoll aufeinander zu beziehen, verzichtet Brawe auf die Darstellung einer linear entwickelten Bühnenhandlung, bei der ein Ereignis konsequent aus dem nächsten folgt. Brawe möchte stattdessen möglichst außergewöhnliche Charaktere vorführen, deren Denkformen und Leidenschaften er präzis durchleuchtet. Die dramatische Aktion entspringt den unterschiedlichen Ambitionen dieser Charaktere, ihre spezifische Tragik ist das Resultat der divergierenden Ansprüche, denen sie unterliegen. Ähnlich wie Schlegel interessiert sich Brawe vor allem für das problematische Individuum, für den erhabenen Verbrecher und seine eigentümlichen Handlungsmotive.

Thematisch steht Brawes »Freigeist« unter dem Einfluß von Shakespeares »Othello« (1604), Youngs »The Revenge« (1721) und Moores »Gamester« (1753) (worin sich erneut die literarische Dominanz der Engländer bekundet). [62] Auslöser des tragischen Geschehens ist wie bei diesen Vorlagen ein Rachemotiv, das zu Intrigen, Betrug, Verwicklun- <Seite 224:> gen und schließlich zur Katastrophe führt. Nach dem Vorbild von Shakespeares Jago, Youngs Zanga und Moores Stuckeley ist Brawes Bösewicht Henley ein Rachsüchtiger, der einen Nebenbuhler mit perfiden Mitteln ins Unglück stürzen möchte. Clerdon, der das Objekt seiner Intrige wird, hat Henleys Haß auf sich gezogen, weil ihm Erfolg, Liebe und Anerkennung zuzufliegen scheinen. Henleys Zerstörungsplan besitzt keinen unmittelbaren pragmatischen Zweck – er möchte sich, anders als Moores Stuckeley, nicht am Besitz des Nebenbuhlers bereichern oder dessen Verlobte verführen –, sondern gilt allein der Befriedigung seiner Rachgier. Zwar spielt persönliche Enttäuschung eine gewisse Rolle – Henley unterlag Clerdon im Ringen um die Gunst der schönen Amalia –, doch hat sich der Haß des Intriganten längst verselbständigt: »So eine gemeine und geringe Rache als der Tod war meiner unwürdig. Ich hätte den Clerdon durchbohrt, ein Augenblick wäre seine Strafe gewesen. Nein, eine empfindlichere, eine langwierigere Strafe, eine Strafe, die mir selbst, da ich sie ausdachte, einen Schauer einjagte, soll meine Schmach ahnden.« (I,1, 275) [63]

Henleys Strategie zielt auf die Störung der Seelenruhe seines Gegners. Er schleicht sich in Clerdons Vertrauen ein und erschüttert dessen christliche Glaubensgewißheit: »Mein erster Versuch war, seine Liebe zur Religion zu bekämpfen, eher durfte ich's nicht wagen, ihn mit dem Laster bekannt zu machen. Ich verstrickte ihn in unendliche Zerstreuungen. Ich verführete ihn zu kleinen Vergehungen, die ihn beunruhigten und bald in ihm einen heimlichen Widerwillen gegen die Religion, die ihn deswegen bestrafte, pflanzten.« (I,1, 275) Unter der Regie Henleys verwandelt sich Clerdon in einen ›Freigeist‹, der bestimmte christliche Dogmen anzweifelt, um moralischen Freiraum für seine verwerflichen Taten zu gewinnen. Brawe übernimmt hier die polemische Position der Orthodoxie, wie sie auch sein Leipziger Lehrer Gellert entschieden vertreten hat. ›Freigeisterei‹ gilt ihr zufolge als Laster, als subtile Form des Atheismus jenseits der amtskirchlichen Doktrin. Gemeinhin wurden mit diesem Begriff die Deisten versehen, die zwar Gott als Schöpfer aller Dinge betrachteten, aber die geschaffene Natur als von Eigengesetzen <Seite 225:> bestimmte Sphäre auffaßten, deren Bau man, gestützt auf naturwissenschaftliche Erkenntnismethoden, rational analysieren konnte.

Der Deismus, dessen Wurzeln im England des 17. Jahrhunderts liegen (Cherbury, Toland), hat in Mattkiew Tindals »Christianity as old as creation« (1730) seine für die Aufklärung wichtigste Programmschrift. Religion wird für ihn zur Sache der Moralität, des sittlichen Handelns, wohingegen die Wahrheit der Offenbarung nur noch als eine unter mehreren Möglichkeiten der Naturerkenntnis gilt. [64] Katholizismus und protestantische Orthodoxie machten gegen den Deismus entschieden Front und hielten ihn für eine besonders perfide Spielart des Atheismus, weil er mit seiner Kritik am Offenbarungsgedanken ein Kernelement der christlichen Lehre wenn nicht verwarf, so doch relativierte. Anthony Collins' »Discourse of Free-Thinking« (1713), ein dezidiertes Plädoyer für die Abkehr vom Dogmatismus, stiftete den Begriff, unter dem die Orthodoxie die abweichenden religiösen Bewegungen der Zeit führte. ›Freigeisterei‹ wurde der polemische Terminus, mit dem sie jene Strömungen bedachte, die sich in Distanz zu den überlieferten Glaubenswahrheiten setzten und mit aufklärerischen Gedanken sympathisierten.

Die deutsche Frühaufklärung blieb, anders als die englische, durchweg auf orthodoxem Kurs. Deistische Ansichten wären ohnehin als Reflex atheistischer Positionen betrachtet und rigide verfolgt worden. Die Grenze zwischen Traditionalismus und nur taktisch bedingter Zurückhaltung gegenüber der neuen Bewegung war schwer zu ziehen. Wenn Brawes Trauerspiel die Freigeisterei als Immoralismus denunziert, so deckt sich das mit der orthodoxen Linie, die man in Leipzig, der geistigen Hauptstadt der deutschen Aufklärung, konsequent vertrat. Gellerts »Moralische Vorlesungen«, die auch Brawe besucht haben dürfte, lassen keinen Zweifel daran, daß Deismus und Atheismus zusammengehören und gleichermaßen verwerfliche Formen des Renegatentums darstellen. [65]

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Die Problematik der freigeistigen Bewegungen stößt in der Mitte des 18. Jahrhunderts auf allgemeines Interesse. Vor Brawe hatte sich bereits Lessing literarisch mit dem Thema auseinandergesetzt, ohne dabei sonderlich auf theologische Feinheiten zu achten. Adrast, die Hauptfigur seines Lustspiels »Der Freigeist« (1749), ist zwar ein Kritiker der Kirche, jedoch erweist sich sein Skeptizismus rasch als Element einer misanthropischen Grundhaltung, die gegen jegliche Form des moralischen Anspruchs rebelliert. Die Verknüpfung von psychischer Disposition und antireligiöser Gesinnung scheint geeignet, die Freigeisterei Adrasts gründlich zu desavouieren; seine kritische Haltung besitzt den Charakter einer bloßen Attitüde, die ihm am Schluß mit Hilfe des gesunden Menschenverstands systematisch ausgetrieben wird.

Brawes Trauerspiel unterscheidet sich nicht nur durch die düstere Tönung seiner Handlung von Lessings leichter Komödie. Die gesamte religiöse Problematik ist hier weitaus differenzierter dargestellt, auch wenn sie wiederum nur den Rahmen für die eigentlich tragische Grundkonstellation abgibt. Daß es sich bei Clerdons ›Freigeisterei‹ um eine Form des Deismus handelt, der die Offenbarungsidee für Aberglaube hält und die Religion auf eine Anleitung zur moralischen Handlungspraxis jenseits schöpfungsgeschichtlicher Erklärungen reduziert wissen möchte, bezeugt schon die Entschiedenheit, mit der er es ablehnt, »in die Klasse der Gottesleugner« (II,6, 293) eingeordnet zu werden. Granville, der große Gegenspieler Henleys, der verzweifelt versucht, Clerdon auf den Pfad der Tugend zurückzuführen, greift denn auch in seiner Replik nicht atheistische, sondern deistische Überzeugungen an: »Sie gehören zu denen, die auf das stolze Bekenntnis einer natürlichen Religion trotzen. Allein, muß ihr System davon nicht das verächtlichste Gespinst sein, das je ein menschlicher Wahn zusammengewebt hat? Vernünfftig handeln wollen und mitten in einem verschwenderisch um uns her ausgegoßnen Überfluß von Licht mit Gewalt sich die Augen zudrücken, einen Schöpfer verehren, ihn erkennen wollen, und doch den vorzüglichsten Weg, uns von ihm zu unterrichten, sogleich im voraus ohne alle Ursache sich verschließen (...)« (II,6, 293) – das, so meint Granville, sei <Seite 227:> der fundamentale Widerspruch einer religiösen Position, die Gott von seinem eigenen Werk, der Natur, isolieren wolle. Brawes Attacke gegen die Freigeister besitzt damit eine doppelte Stoßrichtung. Unter rein theologischen Aspekten bildet Clerdons Deismus aus der Sicht des Autors ein inhaltliches Paradoxon, moralisch betrachtet erfüllt er eine bloße Entlastungsfunktion, indem er ein Leben voller lasterhafter Ausschweifungen legitimiert. Spätestens an diesem Punkt geht es auch Brawe nicht mehr um theologische Details, sondern um polemische Zuspitzung.

Der religiöse Konflikt, so aufschlußreich er für das zeitgenössische Interesse an konfessionellen Fragen ist, bildet jedoch nur den Auslöser der tragischen Verwicklung, in die Clerdon gerät. Henleys Ansinnen bleibt es, den verhaßten Nebenbuhler zum Laster zu verführen und dadurch ins Unglück zu stürzen. Zunächst scheint es, als ob sein Plan aufgegangen sei – Clerdon hat das Familienvermögen vergeudet, den Vater zum Bettler gemacht, seine Verlobte Amalia beleidigt und die bürgerliche Reputation verloren; in dieser Phase tritt Granville auf, der Bruder Amalias und frühere Freund Clerdons, der den schwankenden Protagonisten von neuem für die wahre Religion und die Sache der Tugend begeistern möchte. Nach einem erbitterten Kampf der Interessen siegt am Ende der Intrigant Henley, dem es gelingt, Clerdons Mißtrauen gegen Granville zu schüren, bis dieser, im Wahn, betrogen zu werden, den wohlmeinenden Freund in offenem Zweikampf tötet.

Das Mitleid der zeitgenössischen Zuschauer dürfte sich gleichwohl eher auf Clerdon als auf den erhaben sterbenden Granville bezogen haben. Der Protagonist, der von Hause aus tugendhaft ist und durch allzu große Empfänglichkeit für fremde Einflüsse zum Geschöpf Henleys wird, büßt seine Tat mit schwerster Gewissensqual, aus der ihn am Ende allein die Tötung des Intriganten und der Selbstmord zu erlösen vermögen. Das gesteigerte Pathos der Schlußmonologe, in denen Clerdon seine Lage beklagt, gemahnt an die Tradition der heroischen Tragödie, die ein dramatisches Finale mit rhetorischem Furor besonders bevorzugt. Nicht nur hier, sondern auch in der Szene, in der der sterbende Granville seinem Mörder Clerdon verzeiht, setzt sich, so scheint es, die Dramaturgie der Bewunderung gegen die empfindsame Affektkultur des bürgerlichen Trauerspiels durch, auf deren Wirkungsmöglichkeiten Brawe vor allem in den ersten Akten zurückgreift.

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Die Konstellation der Charaktere, die Brawes Trauerspiel aufweist, ist von deutlich sichtbarer Symmetrie. Als Zentralfigur des Konflikts steht der schwache Clerdon zwischen dem »Ungeheuer« Henley (V,6, 332) und dem erhabenen Granville, die beide erbittert um die Seele des Protagonisten ringen. Folgt Henley in seinem Handeln allein dem Prinzip der Ehre, so orientiert sich Granville an der moralischen Pflicht, die ihm seine sittliche Weltsicht nahelegt. Als Charakterdrama ist Brawes »Freigeist« zugleich eine Tragödie der Werte, an der man die aufklärerische Auffassung von Ehre und Pflicht exemplarisch ablesen kann.

Henley läßt keinen Zweifel daran, daß gekränkte Ehre die entscheidende Triebfeder der von ihm in Gang gesetzten Intrige ist: »Vielleicht würde ich selbst ein eifriger Verehrer der Religion sein, besäße ich nicht das, was große Geister Ehre, der gemeine Haufe Rachgier nennt. Die Religion verbeut es, ich kann sie nicht lieben. Diese Leidenschaft ist mir so teuer geworden und hat sich meine ganze Seele so unterwürfig gemacht, daß ich eines Feindes Verderben selbst mit meinem eignen erkaufen wollte.« (I,3, 280) Die Ehre erweist sich als problematischer Wert, wenn sie nicht durch moralische Zwecke diszipliniert wird. Daß übertriebener Ehrgeiz schade, weil er Egoismus freisetze, ist das unisono vorgetragene Credo der aufgeklärten Popularphilosophie. Gottscheds »Weltweisheit« betont, im Anschluß an die Gesellschaftslehre Christian Wolffs, der Gewinn von Ehre sei abhängig vom Ausmaß der Pflichterfüllung, das der Mensch an den Tag gelegt habe: »Wer nun seinen Pflichten gebührend nachkömmt, der erlanget wirklich Vollkommenheiten, die nicht ein jeder besitzt, und die auch andern Leuten in die Augen fallen. Das Urtheil anderer Leute von unserer Vollkommenheit nennen wir aber die Ehre: so, wie das Urtheil derselben von unserer Unvollkommenheit die Schande heißt.« [66] Zedlers »Universal=Lexicon« folgt Gottscheds Argumentation, wenn es Ehre für die Folge erfüllter Pflicht hält, übertriebenen Ehrgeiz aber als Ausdruck eines rücksichtslosen Egoismus bezeichnet, der der sozialen Gemeinschaft schädlich sei. [67] Gellerts »Moralische Vorlesungen« erklären ganz in diesem Sinne: »Der sicherste Pfad der Ehre ist also der Weg der fortgesetzten Pflicht (...)« [68]

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Brawes Henley ist gemäß den Maximen der aufgeklärten Moralphilosophie kein Ehrenmann, sondern ein Opfer der Ehrsucht. Fortgerissen von extremem Geltungsdrang und Eitelkeit, setzt er alles daran, seine egoistischen Interessen skrupellos zu verfolgen. Über die Ehrsucht merkt Gellert an: »Diese Neigung, wenn wir ihr nachhängen, erfüllt uns mit Unruhen, reizt uns zu ängstlichen und kindischen Unternehmungen, erzeugt Stolz, Neid, Eifersucht, Kaltsinn gegen fremde Verdienste, Geringschätzung derselben, und, so bald sie gekränkt wird, Rache und Verleumdung. Was aber das meiste ist: sie wendet das Herz von Gott ab.« [69] Gellerts Bestimmung liest sich wie eine Charakterisierung des Intriganten Henley, dessen Racheplan das Resultat seines übertriebenen Ehrgeizes darstellt.

Noch Lope de Vega und Calderón haben in ihren Mantel- und Degenstücken, den comedias de capa y espada, die Ehre als höchsten Wert auf Erden gefeiert, dem das private Glück des Menschen unbedingt untergeordnet werden muß. [70] Corneille folgt, zumal im »Cid« (1636) und im »Horace« (1640), dem Exempel der großen Spanier und formuliert ein entschiedenes Plädoyer für die Priorität der Ehre vor allen anderen Prinzipien. Die heroische Tragödie der Gottsched-Zeit setzt hier, wie man sehen konnte, bereits andere Akzente und orientiert sich an einem differenzierten Ehrbegriff, der nur dann als moralisch akzeptable Kategorie gilt, wenn er Loyalität und Pflichtbewußtsein einschließt. Cäsars Traum von unumschränkter Macht ist für die aufgeklärte Tragödie ebenso verwerflich wie Ulfos Usurpatoren-Ehrgeiz.

Zunächst hat es den Anschein, als sei Henley der Wahlverwandte des Schlegelschen Ulfo – ein problematischer Charakterheld wie dieser, moralisch zweifelhaft, aber aus moderner Sicht interessanter als der tugendsame Granville (der die Nachfolge der makellosen Canut antritt). Die Differenz liegt jedoch im Detail: während Ulfo seinen ungeheuren Ehrgeiz auf ein für ihn persönlich wichtiges Ziel – die Eroberung der Macht – richtet, bleibt Henleys Vorgehen ausschließlich von destruktiven Ener- <Seite 230:> gien bestimmt. Letzte Befriedigung zieht er allein aus dem moralischen Fall seines früheren Konkurrenten, dem er am Schluß lachend zuruft: »Wie triumphiere ich! wie genieße ich Ihr Unglück? Unaussprechliche Wollust bemächtigt sich meiner, da ich Ihrer Verzweiflung Hohn sprechen kann. Dies ist der schönste Tag meines Lebens (...)« (V,6, 331) Von der Apotheose des Ehrbegriffs, die das spanische Barockdrama in Szene setzt, scheint hier nichts mehr geblieben. Der Ehrgeizige gilt jetzt als das abschreckendste Beispiel skrupelloser Selbstsucht; zeichnete sich Schlegels Ulfo zumindest durch eine fast naive Offenheit der Gesinnungen aus, so ist Brawes Henley ein intriganter Lump ohne jeden Anstand.

Henleys Ehrversessenheit findet in Granvilles bürgerlichem Tugendbegriff sein Gegenstück. Dessen Zentrum bildet der Begriff der Pflicht, der vornehmlich mit christlichen Bedeutungsnuancen versehen ist. Der sterbende Granville verzeiht seinem Mörder: »Nein, Clerdon, ich kann nichts als Sie segnen. Meine Religion befiehlt es, und wie leicht wird diese Pflicht meinem Herzen.« (IV,6, 318) Die christliche Vergebung ist kein Gebot des Verstandes, sondern eine Sache des menschlichen Gefühls. Zur religiösen Prägung tritt der bürgerliche Programmwert der Empfindsamkeit. Wenn Granville über den Tod von Clerdons Vaters berichtet, den die Leichtfertigkeit des Sohnes ins Schuldgefängnis brachte, so kann er seine Tränen nicht zurückhalten (II,3, 287). Das Weinen verrät den mitleidsfähigen Charakter, der eben nicht nur als konsequenter Vertreter einer orthodox christlichen Moral, sondern auch als empfindendes menschliches Wesen auftritt. ›Rührung‹ und ›Mitleid‹ fühlt Granville angesichts des ins Gefängnis geworfenen Vaters, dessen Schicksal ihn veranlaßt, dem Sohn nachzureisen, um ihn zu tugendhaftem Verhalten zu bekehren (II,6, 293).

Steht der lebende Granville für die bürgerliche Wertsphäre ein, so profiliert er sich sterbend als heroischer Charakter, dem Bewunderung, aber kaum Mitleid zuteil werden dürfte. Die empfindsame Affektdisposition verwandelt sich jetzt in den Habitus des Märtyrers, der seinen Tod als Opfer für die Tugend betrachtet. Clerdon kommentiert die Verzeihensbereitschaft Granvilles nicht ohne Zweideutigkeit: »Erhabner, schon den Unsterblichen, die deiner warten, ähnlicher Mann, wenn ein Elender aus seiner Tiefe dich um etwas beschwören darf, o so töte mich nicht mehr durch diese mehr als menschliche Güte! Sie ist Marter, unerträgliche Marter für mich.« (IV,6, 319)

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Auf den ersten Blick bezeichnet der erhabene Tod Granvilles einen Umschlag vom bürgerlichen Trauerspiel zur heroischen Tragödie, vom Wirkungseffekt des Mitleids zum Prinzip der Bewunderung. Clerdons Bitte verdeutlicht jedoch, daß Brawe als Schüler Lessings die problematischen Aspekte des erhabenen Charakters bestens vertraut sind. Wo die ›menschliche Güte‹, weil sie selbst fast inhumane Züge annimmt, zur ›Marter‹ für den Schuldigen wird, hat sie ihren moralischen Zweck verfehlt. Granvilles Tod scheint von jener ›Unempfindlichkeit‹ zu zeugen, die laut Lessing die Mitleidsbereitschaft des Zuschauers einschränkt und damit den kardinalen Effekt des Trauerspiels schwächt. [71] Die erhabene Sterbeszene bedeutet daher keinen Rückfall in die Wirkungspoetik der heroischen Tragödie, sondern reflektiert die Ambivalenz des ihr zugrundeliegenden Prinzips mit dichterischen Mitteln.

Die tragische Figur des Trauerspiels verkörpert Clerdon, der ursprünglich moralische Charakter, den mangelnde Gemütsstärke zum Intrigenopfer werden läßt. Daß Clerdon im Grunde gute sittliche Anlagen besitzt, betont Granville gegenüber Amalia: »Was ist der Zweck unsrer Reise? Ist es nicht, einen liebenswürdigen jungen Menschen der Tugend und Religion wieder zuzuführen, dessen Herz dieser Bemühung nicht unwürdig ist? Und könnte wohl etwas unserm Vorhaben günstiger sein, als wenn das in ihm wieder entfesselte Gewissen uns den Weg dazu bahnte?« (II,1, 284) Brawe, der sich beim Aufbau der Handlung kaum von aristotelischen Prinzipien leiten läßt (und auch darin Nachfolger Schlegels ist) [72], hat seinen Protagonisten jedoch mit einer ›hamartia‹ ausgestattet, die katastrophale Konsequenzen zeitigt. Henleys Intrige kann erfolgreich sein, weil Clerdon eine Charaktereigenschaft besitzt, die ihn für die Einflüsterungen der ›Freigeister‹ empfänglich macht: den Stolz. Als ›stolz‹ bezeichnet er sich selbst (III,2, 300), ›stolz‹ nennt ihn auch Granville (II,6, 293); Henley selbst beschreibt Clerdons Konflikt aufs genaueste, wenn er erklärt: »Stolz und Gewissen kämpfen in ihm.« (III,1, 296)

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Ähnlich wie im Fall Lucie Woodvils führt auch Clerdon der Stolz zu Verblendung und Torheit. Seine freigeistigen Neigungen sind aus Brawes Perspektive nur der Ausfluß des hybriden Stolzes, der in der Religion Opium fürs Volk und im Offenbarungsgedanken ein Produkt des Aberglaubens sieht. »Der Pöbel und Kinder«, so erklärt Clerdon seinem Diener abfällig, »mögen die Religion glauben, ich nicht.« (I,5, 282) Vom Stolz ist es kein weiter Weg zur Ehrsucht, über die Henley sagt, daß sie dem Laster Tür und Tod öffne: »Jedoch sein Ehrgeiz, den ich zu rechter Zeit rege zu machen weiß, die Zerstreuungen, in denen er durch mich beständig herumirrt, und der Charakter eines Freigeists, den er öffentlich angenommen hat, werden ihm schon den Weg zur Besserung verschließen.« (I,3, 279) Gerade das öffentliche Bekenntnis zu freigeistigen Religionsbegriffen, provoziert durch die Bereitschaft zu unsittlichen Ausschweifungen, ist geeignet, die gesellschaftliche Reputation Clerdons zu zerstören. [73] Zur sozialen Isolation tritt schließlich der innere Zwiespalt, weil der Protagonist nicht endgültig Abschied von seinen früheren moralischen Prinzipien nehmen kann, sondern sich ihnen, unter dem Einfluß Granvilles, untergründig verpflichtet fühlt.

Erst das eigene Verbrechen, die Tötung Granvilles, löst in Clerdon jenen Prozeß der Einsicht aus, der ihn zur mitleidswürdigen Figur werden läßt. In einer Reihe von pathetisch gesteigerten Monologen klagt er über sein Leid und die Gewissensqual, die ihm seine Tat bereitet. Einen Ausweg findet er am Ende, wie Lucie und Mellefont, nur im Selbstmord. Die Läuterung, die sich in Clerdon vollzieht, schließt die Rückkehr zu religiösen Werten ein. Seine irdische Schuld werde, so erklärt er Henley, vor einer metaphysischen Instanz verhandelt: »Ja, frohlocke nur, frohlocke, ich fühle den ganzen Grimm und die niederschmetternden Gerichte des Himmels, sie strafen mich, weil ich deinen unseligen Eingebungen folgte und ein Ungeheuer wie du ward.« (V,6, 332)

Das Wort ›Ungeheuer‹ verweist beziehungsreich auf den Traum, von dem Clerdon Henley in der Expositionsszene erzählt. Die Parallele zu Lessings »Sara Sampson« liegt hier offen zutage; wie Saras Traum ist auch der Clerdons Orakel und Spiegel psychischer Zustände gleichermaßen. Er präludiert den gesamten Verlauf des Trauerspiels, indem er <Seite 233:> zwei Gestalten vorführt, die erbittert um Clerdon ringen. Auf der einen Seite steht ein »Ungeheuer«, das den Träumenden mit »schmeichelnde(r) Stimme« zum »fürchterlichen Abgrunde« lockt, auf der anderen eine Person, die »die Züge des Granville« besitzt, »nur daß sie mit etwas Feierlichem und Erhabnem vermischt waren, das über die Menschheit, selbst in ihrer größten Würde, ist.« (I,2, 277) Bleibt die Konstellation an diesem Punkt noch eindeutig – hier der ›erhabene‹ Granville, dort das ›Ungeheuer‹ Henley –, so gewinnt sie am Schluß jene Ambivalenz, die auch Saras Traum auszeichnete. Statt die rettende Hand des Granville zu ergreifen, stößt Clerdon sie zurück: »(...) und in diesem Augenblick kam es mir vor, als wenn das Ungeheuer meinen Freund vor meinen Augen tötete. Wütend stürzte ich mich auf dasselbe los, ihn zu rächen, als plötzlich (...) der ganze Himmel sich über uns öffnete und Feuer und Ungewitter ward. Ein stürmender Donner schleuderte mich und den Vorwurf meiner Rache in den gräßlichen Abgrund hinab, und ich erwachte.« (I,2, 277f.) Die apokalyptische Metaphorik des Traums, der Bilder aus der Johannes-Offenbarung (8,5) zitiert, wiederholt sich in den Schlußmonologen des von Gewissensqualen gepeinigten Clerdon (V,3, 327, V,5, 330); die Traumerzählung antizipiert damit die innerseelische Situation, in die der Held am Ende des Trauerspiels gerät. Nach vergleichbarem Muster verfährt später Schiller im letzten Akt der »Räuber«, wo Franz Moors Todesängste durch einen Traum mit apokalyptischen Bildmotiven illustriert werden.

Interpretationsbedürftig scheint der Umstand, daß im Traum nicht Clerdon, sondern das ›Ungeheuer‹ Granville tötet. Ganz offenkundig handelt es sich hier um eine Metamorphose des Protagonisten, wie sie sich auch in der Dramenhandlung selbst vollzieht. Unter den Einflüsterungen Henleys ist Clerdon seinerseits zum ›Ungeheuer‹ geworden, das den eigenen Freund bedenkenlos ermordet. Wenn der Träumer der schrecklichen Tat aus der Distanz zusieht, so bezeichnet das die Selbstentfremdung, die ihn im Zustand äußerster emotionaler Erregung erfaßt hat; in eben diesem Stadium wird sich Clerdon nach der Ermordung Granvilles befinden (IV,5, 314). Schon im Expositionsmonolog erklärt Henley, sein Ziel sei es, den Widersacher »zum Lasterhaften, zum Frevler, ja womöglich zum Ungeheuer zu erniedrigen« (I,1, 275); am Schluß greift Clerdon die Metapher auf und räumt ein, er sei »ein Ungeheuer« (V,6, 332) wie Henley selbst geworden. Der Traum nimmt <Seite 234:> folglich nicht nur die Mordszene vorweg, sondern bezeichnet auch sehr genau die komplizierten Beziehungen, die zwischen den Figuren herrschen. Erklärbar wird er aus den frühzeitig entwickelten Gewissensängsten Clerdons, der bereits am Beginn des Dramas zu ahnen scheint, in welcher Gefahr er sich befindet. Daß er diese Gefahr nicht aus eigener Kraft abwenden kann, beleuchtet erneut die Macht der Leidenschaften, gegen die der moderne Protagonist so wenig ausrichten kann wie der antike Held gegen das ihm von den Göttern zugedachte Schicksal.

Brawes Trauerspiel, das die neuere Forschung fast völlig ignoriert, besitzt durchaus wegweisende Bedeutung. Zumal der Typus des Henley wird im Drama des 18. Jahrhunderts rasch Karriere machen. Nach seinem Vorbild sind Leisewitz' Guido, der Bruder des Julius von Tarent, und der Guelfo aus Klingers »Zwillingen« gestaltet; noch in den »Räubern« hat er, bisher kaum bemerkt, seine Spuren hinterlassen. Schillers Neuansatz besteht darin, daß er die Figur des Henley in zwei Gestalten spaltet. Der Typus, den Brawe zeigt, ist bei ihm im Zeichen einer individuellen Personengestaltung aufgelöst und psychologisch verfeinert worden; verkörpert Karl den erhabenen Verbrecher aus verlorener Ehre, so Franz den üblen Intriganten mit unbefriedigtem Ehrgeiz. [74] Sie beide weisen Charakterzüge auf, die Henley in sich vereinigt: die Leidenschaftlichkeit des Enttäuschten und die Rachbegierde des rücksichtslosen Egoisten. Der Läuterungsprozeß jedoch, den Franz und Karl am Schluß von Schillers Drama durchlaufen, bleibt Brawes Henley noch vorenthalten. Er stirbt als verstockter Bösewicht ohne jede Änderung seiner Gesinnung – als Typus, nicht als wirklich individueller Charakter.


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[59] Wenig später lautet der Titel der Zeitschrift »Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste«.
[60] Zu Nicolais Preisausschreiben vgl. August Sauer, Joachim Wilhelm von Brawe. Der Schüler Lessings, Straßburg 1878, S. 19f.

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[61] Zur Nachwirkung Sauer, Brawe, S. 16f.
[62] Auf diese Einflüsse verweisen bereits die Arbeiten von Sauer, Brawe, S. 11f., 42f., Arthur Eloesser, Das bürgerliche Drama. Seine Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert, Genf 1970 (zuerst 1898), S. 43 u. Heitner, German Tragedy, S. 194.

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[63] Brawes »Freigeist« wird zitiert nach: Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren, hrsg. v. Fritz Brüggemann (= Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen. Reihe Aufklärung, Bd. VIII), Leipzig 1934, S. 272-232

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[64] Grundlegend hier der Artikel in: Lexikon für Theologie und Kirche, begr. v. Michael Buchberger, hrsg. v. Josef Höfer und Karl Rahner, Freiburg 1957ff. (2. Aufl.), Bd. III, Sp. 195ff. Für das Verhältnis von Aufklärungsliteratur und Deismus instruktiv Hans-Georg Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. V/2 (Frühaufklärung), Tübingen 1991, S. 62ff.
[65] Gellert, Moralische Vorlesungen, in: Gesammelte Schriften, Bd. VI, S. 144f.: »Das System der freygeisterischen Moral ist nicht schwer zu entwerfen. Der widrigste Mensch, der sich seinen Leidenschaften ungestört überläßt, predigt es in seinen <Seite 226:> Handlungen; und seine Handlungen lassen sich leicht in Grundsätze auflösen.« (S. 144) Zum Einfluß Gellerts kurz auch Eloesser, Das bürgerliche Drama, S. 38

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[66] Gottsched, Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Teil), in: Ausgewählte Werke, Bd. V/2, S. 182
[67] Zedler, Universal=Lexicon, Bd. VIII, Sp. 441 (Artikel »Ehre«)
[68] Gellert, Moralische Vorlesungen, in: Gesammelte Schriften, Bd. VI, S. 168

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[69] Gellert, Moralische Vorlesungen, in: Gesammelte Schriften, Bd. VI, S. 204
[70] Vgl. vornehmlich Lope de Vega, Der Stern von Sevilla (= La Estrella de Sevilla, ca. 1617), in: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Deutsche Nachdichtungen von Hans Schlegel, Emsdetten (Westf.), 1960ff., Bd. I, S. 1-59, Pedro Calderón de la Barca, Der Arzt seiner Ehre (= El medico de su honra, 1637), in: Werke, Bd. VII-VIII, Berlin 1840f. (= Schauspiele, übers. v. J.D. Gries), Bd. VIII, S. 167-317

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[71] Lessing, Briefwechsel über das Trauerspiel, in: Werke, Bd. IV, S. 173
[72] Das Geschehen entwickelt sich eher wellenförmig als linear, verzichtet auf kunstvolle ›Verknüpfung‹ und ›Lösung‹ ebenso wie auf Anagnorisis-Szenen; die Dominanz der Monologe bezeugt psychologisches Interesse, schafft aber auch eine gewisse Statik der Handlungsfügung.

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[73] Auf die besondere Brisanz dieses öffentlichen Bekenntnisses verweist auch Eloesser, Das bürgerliche Drama, S. 40

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[74] Heitner, German Tragedy, S. 194, erinnert zwar an die Namensähnlichkeit der weiblichen Hauptfiguren bei Brawe und Schiller, übersieht aber die eigentlichen Bezüge, die der Ehrbegriff erschließt.


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