Friedrich Nicolai: [Kritik des »Freygeist«.] In: Anhang zu dem ersten und zweyten Bande der Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Leipzig: Dyck 1758. Vorrede. S. III-XXIV, hier S. XIV-XXI.
|
<Seite III:>
Vorrede.
Wir haben das unerwartete Glück gehabt, daß unter denen zum Preis eingesandten Stücken keines gänzlich schlecht gewesen ist. Bey dem gegenwärtigen Zustande des deutschen Theaters mußte man gerade das Gegentheil vermuthen, und es würde in der That das Glück beynahe allzu groß gewesen seyn, wann wir ein Stück erhalten hätten, welches gänzlich gut wäre. Wir gestehen also gerne, daß wir mit den eingesendeten Stücken nicht durchaus zufrieden sind, und nur demjenigen Stücke den Preis zuerkannt haben, welches uns vor den übrigen einen Vorzug zu haben schien. Dieses war das Stück, welches Codrus betittelt war, und den Wahlspruch Codrus pro patria non timidus mori, führte. Der dazu gehörige versiegelte Zettel wurde geöfnet; wir wurden aber in keine geringe Verlegenheit gesetzet, als sich darinn bloß folgende An-
<Seite IV:>
zeige ohne Unterschrift befand: »Wann dieses Trauerspiel den Preis erhalten sollte, so werden die Verfasser der Bibliothek ersuchet, entweder mit denen diesesmal daraufgesetzten funfzig Reichsthalern, den Preis des folgenden Jahres zu vermehren, oder selbige sonsten auf eine der schönen Wissenschaften zuträgliche Art anzuwenden«. Wir ersuchten durch eine in verschiedene Zeitungen eingerückte Nachricht, den Herrn Verfasser, sich zu nennen, blieben aber noch in der Ungewißheit, bis wir endlich von zweyen, uns sonst gänzlich unbekannten Freunden des Herrn Verfassers nachfolgendes Schreiben erhielten.
Hochgeehrte Herren,
Die Nachricht, die Sie in das 18 Stück der Vossischen Zeitungen setzen lassen, veranlasset dieses Schreiben. Sie melden, daß das Trauerspiel Codrus den Preis erhalten habe, und bitten den Herrn Verfasser, seinen Namen bekannt zu machen. Sie wollen Ihn gern bey der Herausgabe des Trauerspiels nennen.
Hätte der Herr Verfasser länger gelebt, so würden Sie, seinen Namen schwerlich erfahren haben. Was bey Ihm Bescheidenheit war, das würde bey uns, strafbare Nachläßigkeit seyn. Wir haben die Ehre Ihnen zu sagen, daß der hochfürstl. brandenburg-anspachische Cammerjunker, Hof- und Regierungsraths, Herr Johann Friedrich, Baron von Cronegk den Codrus geschrieben hat. Dieser grosse
<Seite V:>
Geist ist den schönen Wissenschaften durch einen frühzeitigen Tod entrissen worden. Er starb an den Pocken den 1 Januar, früh um ein Viertel auf ein Uhr, im 26 Jahre seines Alters, zu Nürnberg; er hatte seinen Herrn Vater besucht, der sich als General der fränkischen Kreis-Truppen itzt in Nürnberg aufhält.
Wir haben seinen Codrus noch in Anspach gelesen. Es ist uns mit Gewißheit bekannt, daß Er denselben Ihnen eingeschickt hat. Er selbst versicherte, daß, wann er den Preis erhalten sollte; so würde er das Geld nicht annehmen, sondern es entweder zu einer neuen Aufgabe aussetzen, oder auf eine andere den schönen Wissenschaften nützliche Weise anzuwenden suchen. Alles dieses stimmt mit der von Ihnen bekannt gemachten Nachricht so genau überein, daß ohne Zweifel seine Arbeit den Preis erhalten hat.
Wir haben einem zärtlichen Freunde des Wohlseligen diese Umstände erzählt, welcher selbst die erste Anlage des Codrus gesehen hat. Er munterte uns auf, Ihnen den Verfasser des Codrus zu nennen. Wir glauben, daß dieses unsere Pflicht ist, weil die Nachricht, die Sie in die vossische und leipziger gelehrte Zeitung setzen lassen, den wenigen Personen, die den Herrn Baron von Cronegk als Verfasser des Codrus kennen, schwerlich so bald bekannt werden dürfte, als Sie, meine Herren, solche zur Ausgabe dieses Trauerspiels, welche vermuthlich künftige Ostermesse erfolgen wird,
<Seite VI:>
nöthig haben. Wir hoffen, daß Seine hohe Anverwandte und Freunde, uns diese kleine Verwegenheit, wann es anders eine ist, zu gute halten werden.
Der Herr Baron von Cronegk war in vielen Stücken merkwürdig. Seine Verdienste um die schönen Wissenschaften sind ungemein. Die Welt hat bereits Proben davon gelesen. In der zu Halle herausgegebenen Sammlung der Schriften der Gesellschaft der Freunde der schönen Wissenschaften, von der Er ein Mitglied war, und die itzt in Frankfurt fortgesetzt wird; in einem Theile der Sammlung vermischter Schriften, und in vielen andern Arbeiten, die ohne seinem Namen gedruckt sind, ist Er den aufgeklärten Geistern bekannt, wann sie gleich, nicht alle seinen Namen wusten. Vielleicht werden seine Schriften bald zusammen gedruckt.
Er besaß alle Eigenschaften, die einen schönen Geist verehrungswürdig machen, und er bildete solche durch Reisen nach Frankreich und Italien noch mehr aus. Er laß in der deutschen, lateinischen, französischen, italiänischen und spanischen Sprache mit Einsicht und Vortheil. Seine Kenntniß in der Mahlerey und andern schönen Künsten, war groß; er hatte ein Cabinet von Alterthümern, Münzen, Malereyen u. s. w. auf seinen Reisen gesammelt. Sein Charakter war Menschenliebe und Zärtlichkeit. Er liebte seine Freunde mit den hohen Empfindungen eines
<Seite VII:>
Christen. Noch auf seinem Todbette schrieb er an einen: Und wann es auf das Letzte ankommt, so glauben Sie, daß Ihr Freund Muth genug haben wird, zu sagen: Tod! wo ist dein Stachel! Hölle! Wo ist dein Sieg?
Sein Sterbetag wird allezeit einer der betrübtesten Tage unsers Lebens seyn. Nie soll er ohne Zähren, ohne stille der Freundschaft heilige Zähren vorbeygehen: wir wissen, Sie billigen den Schmerz, über den Verlust eines der schönsten Dichter, der so viel versprach. Wir haben die Ehre mit beständiger Hochachtung zu seyn
Hochgeehrte Herren
Frankfurt an der Oder,
den 24 Febr. 1758.
Ihre
gehorsamste Diener
Georg Carl Siegm. Strebel, d. R. B.
Georg Ludwig Vogel d. G. G. B.
Beyde aus Anspach gebürtig.
Wir sind durch diese Nachricht sehr gerühret worden. Der Herr B. von Cronegk ist gewiß ungemein zu bedauren. Wann man ihn nach einem Stücke beurtheilet, welches vermuthlich, wo nicht das erste, doch wenigstens eines von seinen ersten, ist, und daß er noch dazu in einem Alter von nicht viel über zwanzig Jahre verfertiget hat, so kann man leicht erachten, daß er bey mehrerer Ausarbeitung ein vortreflicher
<Seite VIII:>
Trauerspieldichter geworden seyn würde. Wie ist das deutsche Theater nicht zu beklagen, dem das Schicksal Schlegeln in seiner besten Blüthe raubte, und welchem es itzt wieder einen jungen Dichter entzogen hat, der demselben gewiß einmahl Ehre gemacht haben würde!
Wir kommen nunmehr zu den zum Preise eingesandten Stücken. Der Raum erlaubet nicht, sie ausführlich zu beurtheilen, und wir wollen daher weder ihre Fehler noch ihre Schönheiten weitläuftig aus einander setzen, sondern sie nach den verschiedenen Theilen, die bey einem Trauerspiel zu betrachten sind, nur kürzlich gegen einander halten, um zu sehen, welches vor dem andern den Vorzug verdiene. Wir haben schon oben angemerkt, daß keines von den eingesandten Stücken gänzlich ohne Tadel sey; es wird also nur darauf ankommen, zu bemerken, welches der Vollkommenheit näher komme, als die übrigen.
Das erste Stück ist das Trauerspiel Codrus. Die Handlung und der Plan desselben ist ohnstreitig sehr fehlerhaft. Der Herr V. hat in den angehängten Gedanken S. 92 und 93 selbst erkannt, daß die Einheit der Handlung nicht ihre völlige Richtigkeit habe, daß die Erklärung des Vorwurfs im ersten Aufzuge allzu undeutlich sey, und daß es überhaupt in beyden ersten Aufzügen scheine, als ob die Liebe des Medon und der Philainde der Hauptendzweck des Stückes sey. Wir setzen noch hinzu, daß in dem dritten Aufzuge S. 34, mit
<Seite IX:>
Artanders Ankunft eine ganz neue Handlung angehet, welche auch mit dem Ende des Aufzugs S. 47. beynahe geendiget scheinet; aber in dem viertem Aufzuge spinnet sich eine ganz neue Verwirrung an, durch den ganz unvorbereiteten Zufall, daß Medon von dem Artander als sein Erretter erkannt, und also von demselben wieder in Freyheit gesetzet wird. Dieses kommt so unerwartet, als daß Artander den Medon nicht kennet, und ihn, da er sich zu erkennen giebt, ermorden lassen will. Der vierte Auftritt des fünften Aufzugs S. 69. 70. ehe Elisinde den Artander aus Wuth ermorden will, ist zwar schön, aber Codrus scheinet dem Zuschauer, der von dem Orakel noch gar nichts weiß, dabey eine seltsame Person zu spielen, indem er der Elisinde, man weis gar nicht warum, den Arm zurück hält, hernach abgeht, um sich ermorden zu lassen. Er bringt zwar endlich ein Orakel hervor, welches sein Betragen einigermaßen rechtfertiget; da aber bisher noch niemand etwas davon gehöret hat, so kömmt es gänzlich unvorbereitet, und thut nicht die beste Wirkung. Wir merken nur hierbey an 1) daß der Geschichte und der Absicht des Dichters zufolge, das ganze Stück auf diesem Orakel beruhen sollte, welches hier erst im fünften Aufzuge, beynahe ohne alle Vorbereitung, zum Vorschein gebracht wird, 2) daß das Orakel in diesem Trauerspiele nicht erfüllet wird, indem die Athenienser siegen noch ehe Codrus stirbt. Dahingegen alle Schrift-
<Seite X:>
steller, welche diese Geschichte erzählen,
*)
darinn übereinstimmen, daß der König sey erschlagen worden, ehe die Athenienser gesieget. Zugeschweigen, daß der Herr Verf. Athen durch die Böotier befreyen lässet, und es manchem Lesern scheinen möchte, daß eine Stadt, die ihren König verlieret, und ein Heer fremder Bundesgenossen in seinen Mauern hat, ihrer Freyheit noch nicht gänzlich gewiß sey. 3) Da der Herr Verf. einmal von der Geschichte so weit abgegangen ist, so scheinet, bey der einmal gemachten Einrichtung seines Stückes, auch das Orakel überflüßig zu seyn. Denn da er es gar nicht in die Fabel seines Trauerspiels eingeflochten hat, so siehet man eben nicht ein, was Athen von der Erfüllung desselben für Vortheile erhält. Die Geschichte bringet eigentlich mit sich, daß die ganze feindliche Armee von dem Orakel gewust habe, und daß sie daher geflohen sey, so bald sie erfahren, daß der König der Athenienser erschlagen worden. In dem Trauerspiele hingegen wissen die Dorier von dem Orakel nichts, und also muß die Tapferkeit der Böotier alles thun, daher es scheinet, daß Codrus besser gethan haben würde, sich an die Spitze der eindringenden Böotier zu stellen, und allenfalls im Kampfe zu sterben, als sich für die lange Wei-
<Seite XI:>
le ermorden zu lassen, nur damit er noch auf dem Theater einige Reden halten kann.
Man kann nicht sagen, daß in diesem Stücke viele Situationen zu finden wären. Die rechte Handlung gehet erst mit dem dritten Aufzuge an, und also ist es kein Wunder, daß die beyden ersten Aufzüge kalt sind. Selbst der Auftrit S. 15. wo Elisinde den Medon wieder siehet, ist dem Herrn Verf. verunglückt. Der zweyte des zweyten Aufzugs S. 23. würde eine schöne Situation abgeben, wenn nur die Anlage nicht allzu unnatürlich wäre, wovon wir unten, bey dem Charakter der Elisinde, etwas sagen werden. Die Situation in dem fünften Auftrit des vierten Aufzugs S. 54. ist vortreflich und bis zu Ende des Aufzugs ungemein wohl ausgeführet. Dies ist die schönste Stelle in dem ganzen Stücke.
In Absicht auf die Charaktere hat dieses Stück es mit dem Canut gemein, daß die vermeinte Hauptperson, nicht wirklich die Hauptperson ist. Dieser Fehler entstehet aus einem Fehler in dem Plane, welcher verursachet, daß weder Codrus noch Medon, mit welchem Codrus die wenige Aufmerksamkeit theilet, die er noch erregen kann, eigentlich die Hauptperson ist. Codrus hat einen sehr seltsamen Charakter, er läßt beständig vortrefliche Sentimens von sich hören, die aber mehrentheils ziemlich zur Unzeit kommen. Er scheinet ein sehr gutes Herz, aber nicht die größten Talente zu besitzen; denn wann es darauf ankommt, seinem Vaterlande zu hel-
<Seite XII:>
fen, läßt er sich durch eine sehr grobe Hinterlist der Feinde hintergehen, wodurch die Stadt und er selbst um die Freyheit kommt. In dieser allgemeinen Noth tröstet er sich wieder mit sehr schönen Sentimens, ohne daran zu denken, wie er Athen helfen solle. Als endlich Elisinde den allgemeinen Feind durchbohren will, hält er ihren Arm zurück, und um sein Leben für Athen aufzuopfern, läßt er sich von der Wache erschlagen. Er ist außerdem auch verliebt; aber diese Liebe ist sehr kalt und hätte ganz wegbleiben sollen. Medons Charakter hingegen ist sehr schön. Dieser junge Held streitet für sein Vaterland, gehorchet seiner Mutter, und verläßt seine Geliebte, weil man ihm vorstellet, daß die Dankbarkeit und das Wohl des Vaterlandes solches erfodern. Er fasset in einer der allerschrecklichsten Situationen den heldenmüthigsten Entschluß, und befreyet endlich sein Vaterland wirklich. Diesen Charakter hat der Herr Verf. allenthalben sehr wohl beobachtet. Nur an einer Stelle hat er dawider verstoßen, nehmlich S. 54 wo Elisinde zu demselben sagt: du weinst? Wie ist es wohl möglich, daß Medon in dieser Situation weinen kann, und welch einen seltsamen Anblick machet ein Held, welcher weinend sagt: ich will sterben? Philaidens Charakter ist in allen den Situationen, in die sie entweder der Eigensinn der Elisinde oder das Schicksal ihres Vaterlandes bringet, allenthalben ungemein wohl beobachtet. Hingegen ist der Charakter der Elisinde in den beyden ersten ziemlich unnatürlich; sie will, daß
<Seite XIII:>
ihr Sohn seine Geliebte abtreten soll, bloß weil der König dieselbe liebet, und Medon ein Unterthan ist. Eine solche knechtische Ehrfurcht schickt sich nicht in ein Trauerspiel, und am wenigsten hat eine Athenienserinn also denken können. Sie will noch mehr; Medon soll aus Athen reisen, damit Codrus die Philaide ruhig besitzen könne. Wo hat man wohl jemals eine Mutter gesehen, welche verlangen könnte, daß ihr Sohn, den sie vor kurzem als todt beweinet hatte, ins Elend wandern soll, weil der Vater seiner Geliebten dieselbe einmal einem andern versprochen hat. Diese Gesinnung ist nichts weniger als Heldenmuth. Denn was für Bewegungsgründe hatte sie zu dieser Verläugnung? Was sie von der Liebe zum Vaterlande schwatzet, schickt sich gar nicht dahin, denn 1) ist Codrus und das Vaterland nicht einerley, und 2) kommt das Vaterland durch die Verbindung des Medons mit der Philaide, so wenig in Gefahr, so wenig Codrus geneigt ist, diese beyde Verliebten zu trennen; es ist also kein Grund zu dieser Trennung, als der Eigensinn der Elisinde. In den drey letzten Aufzügen sind die ihr zukommende Sitten besser beobachtet.
Artander ist ein abgeschmackter Tyrann, der nicht Abscheu, sondern nur Verachtung verdienet. Die Entschuldigung des Herrn Verf. daß er denselben als einen Dorier platt sprechen lassen, entschuldiget diesen untragischen Charakter nicht. Wir haben S. 51 der Abhandlung
<Seite XIV:>
vom Trauerspiele gewiesen, daß lasterhafte Charaktere nothwendig einen Schein von Tugend, ein falsches System von Ehre u. d. gl. haben müssen, wann sie auf dem Theater erträglich werden sollen. Die wenigen falschen Sententimens die der Herr Verf. dem Artander in den Mund leget, reichen nicht zu. Lycas übrigens und sonderlich Nileus sind sehr kalte Vertrauten.
Der Ausdruck überhaupt, worinn sonst die meisten deutschen Trauerspiele so sehr fehlerhaft zu seyn pflegen, ist in diesem Stücke untadelhaft. Es hat eine sehr grosse Menge einzelner Schönheiten (Beautez de Detail) die Sentimens sind edel, tragisch und ziemlich den Charaktern angemessen; die Schreibart ist durchgängig edel, natürlich ohne niedriges Wesen, und erhaben ohne Schwulst. Die Poesie des Styls hat der Herr Verf. sehr wohl verstanden; man wird viele der glücklichsten Verse antreffen.
In dem Freygeiste ist zwar die Einheit der Handlung besser beobachtet als im Codrus, aber der Plan ist ebenfalls sehr fehlerhaft. Es hat auch dieses mit dem Plan des Codrus gemein, daß die beyden ersten Aufzüge aus lauter kalten Reden bestehen, worinn noch weit weniger Handlung ist, als in den beyden ersten Aufzügen des Codrus. Hier wird auch S. 105 ein Traum erzählet, so wie im Codrus, aber er
<Seite XV:>
schickt sich hier noch weniger. Denn diese Erzählung ist nicht allein unwahrscheinlich, sondern saget auch die ganze Entwickelung voraus, so daß wir nun alles wissen, was wir zu erwarten haben. In den übrigen Aufzügen gehet die Handlung mit so langsamen Schritten fort, daß sie nicht selten stille stehet, und kalte Verbündungsscenen unterdessen ihre Stelle einnehmen.
Ob es gleich dieser Anlage nicht an Situationen fehlet, so hat doch der Herr Verf. weder alle Situationen, deren dieselbe fähig ist, zu nutzen gewußt, noch auch den größten Theil derselben recht bearbeitet, dieß kommt hauptsächlich daher, daß er die Charaktere in diesen Situationen gar nicht richtig ausbildet, wodurch die Situationen selbst einen Theil ihrer Wirkung verlieren. Die Situation in des dritten Aufzugs sechstem Auftritt ist schön, aber das was tragisch daran ist, ziemlich gekünstelt. Es ist nicht wohl zu begreifen, wie Clerdon, welcher schon anfängt, in Vorwürfe auszubrechen, nicht vollends seinen Argwohn, den er so gewiß gegründet glaubt, entdecket und seinen vermeinten falschen Freund zu beschämen sucht. Die Situation in des vierten Aufzugs sechstem Auftritt S. 164 ist an sich vortreflich und auch vortreflich ausgeführt, so daß sie die schönste Stelle des ganzen Trauerspiels ausmacht. Wobey sich sonderlich S. 169 niemand der Thränen wird erhalten können. Des fünften Aufzugs zweyter Auftritt S. 172 hat ebenfalls Schön-
<Seite XVI:>
heiten, welche aber durch den Charakter Amaliens, welcher nicht gut beobachtet wird, sehr vermindert werden. Sie schwatzt zu viel, so wie Clerdon selbst auch nicht wenig redet. Ihre Rede S. 176 ist unerträglich, eine aufgebrachte Leidenschaft ist nicht so schwatzhaft, und läßt nicht der Einbildungskraft Zeit also auszuschweifen. Amalia muß zwar in diesem Augenblicke starke Leidenschaften verrathen, aber nicht durch viele Worte. Clerdons Monologe in dem folgenden dritten Auftritt ist schön. Aber der letzte Auftritt, welcher die schrecklichste Situation, enthalten sollte, ist gänzlich verunglückt, er enthält nichts als einige kalte Erzählungen, wodurch wir nichts erfahren, was wir nicht schon seit dem Anfange des Stückes gewußt hätten, und einen doppelten Mord, welcher auch ganz und gar keine Wirkung thut. Unsers Erachten müßte Henley zwar sterben, aber nicht von Clerdons Hand, sondern durch einen andern Zufall z. B. durch Truworths Eifer. Clerdon aber könnte lebend bleiben, dessen eigen Gewissensbisse ein fortdaurender Tod sein würden.
Die Charaktere anbelangend, muß man bemerken, daß auf Clerdons ganzes Betragen der Charakter eines Freygeistes sehr wenig Einfluß hat. Wir wollen gar nicht läugnen, daß derjenige, der sich von der Religion loß macht, nicht nach und nach in die schändlichste Vergehungen verfallen kann, aber die Freygeisterey wozu Henley den Clerdon verführet hat, ist nicht allein
<Seite XVII:>
gänzlich außer der Handlung, sondern es ist auch offenbar, daß alle Handlungen des Clerdon aus Leidenschaften fliessen, die auch wohl einen Menschen überwältigen können, der sonst der größte Verehrer der Religion ist. Daher kömmt es, daß man alle Stellen, welche die Freygeisterey angehen, aus diesem Stücke wegnehmen kann, ohne der Handlung zu schaden. Dieser Charakter ist auch nicht allenthalben richtig beobachtet worden, er handelt nicht beständig so, wie er wegen der Mischung von Tugenden und Fehlern, welche man bey ihnen wahrnimt, handeln sollte. Wir haben oben bereits ein Beyspiel davon angeführt, und werden weiter unten noch etwas davon anmerken. Henleys Charakter enthält einen Widerspruch. Er wird als der allerverworfenste Lasterhafte vorgestellt, dennoch aber hält er es für die allerentsetzlichste Rache, seinen Feind lasterhaft zu machen, und wer dieses glaubt, hat eine sehr grosse Anlage zur Tugend. Man kann jemanden verführen, um sich die Ausschweifungen desselben zu Nutze zu machen, um nicht ohne Gesellschaft lasterhaft zu seyn, u. d. gl. Aber seinen Feind aus Rache sich selbst ähnlich zu machen, ist ausschweifend und mehr als übertrieben. Dahero würde auch Henley in der Erzählung seiner Rache S. 102 nicht als ein Lasterhafter, sondern als ein Christ reden, wenn man anstatt, Ich verführte ihn, ich hatte gewonnen, u. s. w. setzen wollte, Er verführte ihn, er hatte gewonnen u. s. w. Gleichwohl ist dieser seltsame Cha-
<Seite XVIII:>
rakter sehr öfters nicht richtig beobachtet worden, z. B. in dem zweyten Auftritte des ersten Aufzugs S. 107. Wie ist wohl möglich, daß Henley, welcher den Clerdon durch Zerstreuungen von der Besserung, als einer Folge von desselben Schwermuth, abzuhalten sucht, ihn dennoch allein in den Garten gehen heißt, wo derselbe nothwendig seiner Schwermuth noch mehr nachhängen mußte, und wo, was noch mehr ist, ihm Granville und dessen Schwester begegnen konnten, welche in eben diesem Hause wohnten. Ein so spitzfündiger Rachgieriger als Henley, würde einen solchen Fehler nicht begangen haben. Man wird überhaupt merken, daß, wenn der Herr Verfasser sich aus einer Situation nicht zu helfen weis, er eine Person abgehen läßt, welche öfters die größte Ursach hätte, da zu bleiben. Wie ist es z. B. S. 164 wohl zu entschuldigen, daß Henley weggehet, und den Clerdon bey dem verwundeten Granville allein läßt, dieß ist mit Henleys Charakter nicht zu vereinigen, welcher gleich hätte wissen können, was diese Unterredung für Folgen nach sich ziehen müsse.
Granvillens Charakter ist in dem dritten und vierten Aufzuge vortrefflich; aber der Herr Verf. hat nicht allein diesen Charakter nicht so geschäfftig seyn lassen, als er gekonnt hätte, und als wir gewünscht hätten, sondern er hat auch diesen Charakter gar nicht richtig beobachtet. Granville z. B. ist in dem sechsten Auftritt des zweyten Aufzugs nicht der gütige und sanftmüthige Granville, der er im vierten Aufzuge ist. Der Herr
<Seite XIX:>
Verf. hat weder Granvillens noch Clerdons Charakter richtig gezeichnet. Zu Clerdons Charakter gehöret ein starker Ehrgeiz, durch welchen ihn Henley im vorigen Auftritte S. 124 sogleich hatte lenken können. Dieses mußte ja Granville auch wohl wissen, wie konnte er dann S. 128 solche beleidigende Ausdrücke gebrauchen, auf welche Clerdon mit Recht antwortet: heftige Ausdrücke beleidigen, aber beweisen nichts? Der vernünftige, der sanftmüthige Granville hält es nicht der Mühe werth zu beweisen, und gleichwohl hätte er durchaus beweisen sollen, da er einen völligen Freygeist vor sich hat. Zwar hätte er nicht nach dem Compendio theologico beweisen dürfen, sondern vielmehr mit solchen Gründen, die seinen Freund besonders hätten rühren können, und er hätte sich an verschiedenen Auftritten in Herrn Leßings Freygeiste ein gutes Muster dazu nehmen können. Er fähret aber anstatt dessen in seinem hohen Tone fort; seine ganze folgende Rede schicket sich eher für einen Prediger, der einen hartnäckigen Sünder bestraft, aber nicht für einen Freund, der einen Freygeist, und zwar in der aller delicatesten Situation, auf andere Gedanken bringen will – In Absicht auf Clerdons Charakter, bemerke man nur, daß Henley denselben vorher mit dem Vorwande, daß Granville ehemals über ihn habe herrschen wollen, sogleich wankelmüthig gemacht hat. Dieses folgt ganz natürlich aus seinem ehrgeizigen Charakter. Wie ist es aber mit diesem Charakter zu vereinigen, daß Clerdon, da Granville hier-
<Seite XX:>
durch seine unbedachtsamhaftige Verweise einen neuen Verdacht dieser Herrschsucht, bey demselben erregen muß, dennoch alles so geruhig anhöret? Unsers Erachtens hätte der Herr Verf. den Clerdon sollen darüber zornig werden lassen, und sich dadurch eine neue Situation aussparen. Dann wirklich die ordentlich beleidigende Abschiedsworte des Granville S. 132 welche noch dazu in Henleys Gegenwart gesagt werden, konnten bey einem Manne, wie Clerdon keine andere Wirkung haben.
Amalia ist eine sehr müssige Person, welche ohne im zweyten Auftritt des fünften Aufzuges ganz wegbleiben kann. Widston ist im ersten Aufzuge ein ordentlich Tragödienvertrauter, welcher am Ende des ersten Auftrits abgehet, um den Clerdon Platz zu machen, und im dritten Auftritt wiederkommt, damit Henley noch ein wenig mit ihm schwatzen kann; doch hat sich der Herr V. nachher dieser Person mit besserm Nutzen bedient.
Mit dem Ausdrucke kann man nicht gänzlich zufrieden seyn. Die Schreibart ist zwar öfters gut, aber auch nicht allenthalben gleich und angemessen. Sehr öfters redet eine Person eben so, wie die andere, und nicht allezeit ihrem Charakter gemäß. Das Dialogische ist nicht aufs beste eingerichtet, der eine redet gemeiniglich bis er aufhöret, und dann fängt der andere an. Dieses macht die Unterredungen langweilig, zumal da man in der Schreibart öfters, eher den Dichter, als die unterredende
<Seite XXI:>
Personen finden kann. Einzelne Schönheiten, und Stellen, welche vor andern besonders hervorscheinen, wird man selten finden. Daß die Sentimens nicht allezeit mit den Charaktern übereinstimmen, haben wir schon bemerket.
Nach dieser kurzen Beurtheilung ist es leicht zu entscheiden, welches von beyden Stücken, den Vorzug verdiene. In Absicht auf den Plan und die Situationen sind sie einander an Fehlern und Schönheiten beynahe gleich. Aber in dem Codrus sind vergleichun[g]sweise die Charaktere besser beobachtet, die Sentimens angemessener, und der Ausdruck und Schreibart anständiger und ausgearbeiteter; dieses hat uns bewogen, dem Codrus den Vorzug vor dem Freygeiste zu geben.
Das dritte Stück, welches eingesendet worden, ist betittelt: der Renegat mit der Beyschrift: video meliora proboque, deteriora sequor. Es ist aus Mangel des Raums nicht gedruckt worden, und hat auch eigentlich nicht mit um den Preis gestritten, indem es den andern merklich nachzusetzen ist. Die Hauptperson hat von weiten einige Aehnlichkeit mit der Hauptperson in dem Freygeist. Es ist ein Sohn, welcher seinen Vater verlassen hat, und endlich nach der Türckey gegangen ist, wo er ein Muselmann geworden. Die Anlage dieses Trauerspiels selbst ist einer sehr rührenden Ausführung fähig, aber der Herr Verf. kennet die Natur der menschlichen Leidenschaften noch nicht genau genug, daß er glückliche Situationen anlegen, und durch
<Seite XXII:>
wohlbeobachtete Charaktere ausführen könnte. Es scheinet ihm am Genie nicht zu fehlen, wann er also nur alle seine Charaktere wird wohl untersuchen wollen, so wird er vielleicht finden, wie ein Mensch in dieser oder einer andern Situation wirklich handeln werde, und was für Situationen man aus einer Geschichte ziehen könne, um die Leidenschaften zu erregen, welches der Zweck des Trauerspiels sind. Er hat schon einen sehr grossen Vortheil über andere angehende Tragödienschreiber, nämlich, daß er den Ausdruck in seiner Gewalt hat. Die Schreibart in diesem Trauerspiele ist mehrentheils so untadelhaft, daß sie uns öfters den Wunsch abgenöthiget hat, daß doch der Herr Verf. es auch in den wesentlichern Theilen des Trauerspiels, so weit gebracht haben möchte. Wir wollen eine Stelle anführen, welche in Absicht auf die Schreibart eine der schönsten in dem Stücke ist, um unsern Lesern zu zeigen, daß dieser junge Dichter mit Recht alle Aufmunterung verdienet. Es ist der Auftritt, wo der Vater den Sohn erkennet:
Bridge.
– – Wo bin ich? – Seh ich dich? – –
Erbarmungsvoller Gott! wie hart versuchst du mich!
(zu Korkud) Und du, wann ie in dir die Menschlichkeit begonnte
Wann wahres Unglück je dein Herz erweichen konnte,
Wann du je Tugenden geliebt, wann du ein Christ,
Wann du ein Menschenfreund, wann du mein Sohn noch bist;
<Seite XXIII:>
So komm, ich öfne dir die väterlichen Arme,
So fleh mit mir zu Gott, daß er sich dein erbarme!
So komm – O was ist dieß? O Gott wie zittert er!
Wie blaß –
Korkud.
– Verfluche mich! Ich bin dein Sohn nicht mehr
Dein Segen tödtet mich. Ich fordre keinen Segen,
Der übertäubt mich nur mit fürchterlichen Schlägen.
Dein Segen ists der nur den wilden Kummer häuft
Und siebenfältig mich, stark wie der Tod ergreift.
Tyrannisches Geschick, ich konnte nicht versinken,
Mich mußte nicht das Meer in seiner Fluth trinken,
Ich mußte schrecklichrer und ausgesuchtrer Pein
Durch deinen schweren Arm noch aufgehoben seyn.
O warum ließest du so oft mich überwinden,
Warum konnt ich den Tod den ich gesucht, nicht finden,
Die Feine meines Herrn, warum besiegt ich die,
Warum floß stets ihr Blut warum floß meines nie?
O warum hattest du mich grausam ausersehen,
Den Mörderstahl auf den, der mich gezeugt zu drehen,
Warum entflammtest du mich wider die Natur
Mit wilden Neigungen, warum liebt ich die nur
Die meine Schwester war? Du lehrst Admiens Triebe
Treu wahre Zärtlichkeit, mich Haß und Wut statt Liebe.
Zerstörer unsers Seyns! Tod! du wirst Ruh für mich.
(Er giebt Bridgen den Dolch)
Willst du mein Vater seyn, o so erbarme dich,
Stoß ihn, den ich auf dich, itzt auf Themiren zückte
Den Dolch, den ich so oft ins Herz der Unschuld drückte,
Durchbore meine Brust. Für die gehört der Tod.
Und du o Gott! – Doch ach! ich habe keinen Gott,
<Seite XXIV:>
Du Elend bist mein Gott, du richtest meine Sache,
Für mich ist Gott kein Gott, für mich ist Tod und Rache.
Bridge.
O Gott! vereitle doch den grausamen Verdacht,
Der mir mein Herz zerreist, und mich erzittern macht!
Mein Sohn, er wird doch nicht – was soll ich noch ertragen.
Korkud.
Was dich entseelen wird. Zwar zittre ich es zu sagen.
Doch wiß es dann: dein Feind, dein Mörder, dein Tyrann
Lebt noch und ist – dein Sohn, und ist – ein Musulmann.
Den durch die obengedachte Einrichtung des sel. Freyherrn von Cronegk für dieses 1758 Jahr verdoppelten Preis von hundert Reichsthalern setzen wir wieder auf ein Trauerspiel über eine beliebige Geschichte. Die einzusendende Stücke können bis zu Ende des Weimonats an unsern Verleger in Leipzig postfrey, und unter einem Umschlage, an die Verfasser der Bibliothek gesendet werden. Wir ersuchen aber die sämmtlichen Schriftsteller, welche uns Stücke einsenden wollen, in dem beygefügten versiegelten Zettel ihren Namen und Stand nicht zu verschweigen, indem es durchaus nöthig ist, daß bey dem Abdrucke des Stückes so den Preis erhält, der Verfasser genennet werde. Berlin den 28 März 1758.
Die Verfasser.
<Seite X:>
*)
Man kann alles, was die alten Schriftsteller von der Geschichte des Codrus aufgezeichnet haben, gesammelt finden in Meursii Regno Attico s. de Regibus Atheniensium Lib. III. cap XI. XII.
|