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Jakob Minor: Joachim Wilhelm von Brawe, der Schüler Lessings. [Rezension zu August Sauers Brawe-Monografie.] In: Literaturblatt. Unter Mitwirkung hervorragender Schriftsteller und Fachmänner herausgegeben von Anton Edlinger. Zweiter Band. Wien; Leipzig: Klinkhardt 1878. S. 555–559.

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Joachim Wilhelm von Brawe, der Schüler Lessings.

Von J. Minor.

Brawe leitet von den Nachahmern der Franzosen zu den Nachahmern der Engländer, von den mit französischem Kleister zusammengeleimten Haupt- und Staatsactionen durch das bürgerliche Trauerspiel zur historischen Tragödie, vom Alexandriner durch die Prosa zum fünffüßigen Jambus, von Gottsched, mit dem er in Addison dieselbe Quelle hat, zu Lessing. Johann Elias Schlegel ist ihm in der Technik weit überlegen, aber als Kind der alten Schule, in der noch die frostigen Beherrscher der Leidenschaften, die altklugen Pedanten ihrer Empfindung dominirten, steht er an Feuer und Kraft weit hinter ihm zurück. Cronegk, sein glücklicherer Nebenbuhler um die doctarum frontium hederae, steht noch mehr auf dem Standpunkte der Sentenzen und Antithesen, der Couplets und des Alexandriners, dem schon J. El. Schlegel in seinen letzten Entwürfen entsagt hatte. In allen den genannten Neuerungen ist J. W. Brawe der Schüler Lessing's; das ist seine Stellung in der Literaturgeschichte, und darnach wird er am besten benannt.

Joachim Wilhelm von Brawe ist am 4. Februar 1738 zu Weissenfels in Sachsen geboren. Sein Vater war Vice-Kanzler des damaligen Herzogthums Sachsen-Weissenfels, wurde aber schon 1743 nach Dresden versetzt. Was deutsche Männer groß gezogen hat, die liebende Fürsorge einer Mutter, blieb unserem Dichter versagt; er verlor seine Mutter in frühen Jahren. Die Liebe zu dem Vater dagegen tritt in seiner Dichtung warm, ja glühend hervor. Es ist, als ob der volle Strom seiner Empfindung auch hier ein Hinderniß aus dem Wege zu räumen hätte, als ob auch hier ein elegischer Schatten aus dem Leben in die Dichtung gedrungen wäre. Fünf Jahre nachdem Klopstock seine berühmte Abschiedsrede gehalten, wurde unser Brawe an der Schulpforte aufgenommen (1750). Am Geiste stark – am Leibe schwach! dieses traurige Losungswort seines Lebens brachte er versiegelt und verbrieft von der Schule mit auf die Akademie. Leipzig, das Klein-Paris für Leben und Sitte des vorigen Jahrhunderts, das ganze volle Paris aber für die vorclassische Literatur, sollte Epoche seines Lebens bilden. Die Rechtsgelehrsamkeit ging er aus zu suchen, und brachte noch mehr: den Ruhm des erfolggekrönten Tragödiendichters heim.

Literarische Verbindungen bestanden in Leipzig seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts in ununterbrochener Reihenfolge fort. Aus der Görlitzer »Poetischen Gesellschaft« (1697 gegründet) entwickelte sich Gottscheds »Deutsche Gesellschaft«; aus dieser gingen die »Schwabe'schen Belustiger«, und endlich die »Bremer Beiträger« hervor. An den Lessing'schen Kreis, in welchen nunmehr unser Brawe eintrat und den wir sogleich des Näheren zu besprechen haben werden, schließt sich nach kaum zehnjähriger Pause die Erscheinung Goethe's an; und was Leipzig Schiller bedeutete, als er unter dem Himmel von Mannheim wie unter dem Bewußtsein eines Mordes zu ersticken drohte, muß man in den Briefen an Körner nachlesen.

Gottsched war, als Brawe nach Leipzig kam, ein todter Mann. Die Blamage, der er sich bei Gelegenheit der Aufführung der ersten deutschen Operette: »Der Teufel ist los« ausgesetzt, hatte ihm den Garaus gemacht. (1752.) Lessing in der »Vossischen Zeitung« (1755, vom 11. Januar) hatte ihn den großen Duns genannt, wie Zachariä im Geheimen schon lange vorher. Gleim wollte den »Schöpfen« schon 1750 nicht mehr als Dictator für die Nation urtheilen lassen. Die Erscheinung des Schönaich'schen »Hermann« hob (1751) Gottscheden wieder den Kamm empor, und Kleist hielt es an der Zeit, wieder Satiren auf ihn zu machen. Kurz darauf lieferte Zachariä ein halbes Dutzend. (Pröhle, Lessing, S. 207.) Die Dichterkrönung Schönaich's feierte Koch, der mit Lessing und Weisse in Verbindung stand, durch Aufführung des »Poetischen Dorfjunkers«. Auch Cronegk verfertigte eine Satire auf Schönaich's Krö- <Seite 556:> nung, worin er den großen und kleinen Christoph (d. i. Gottsched und Schönaich) in der Sprache des Schlegel'schen Kanut miteinander reden ließ. (»Theaterjournal für Deutschland.« 1779. 11. St., S. 9 ff.) Und sehr zeitgemäß setzte er (um 1757) den Anhängern Gottsched's Monumente auf ihre Gräber. (»Merkur« 1774. Nov., 104–112.)

Bei Gottsched war also für unsern Ankömmling nichts mehr zu holen.

In den Kreis heiterer Freude und anakreontischer Tändeleien, aus welchem schon vorher Lessing's »Kleinigkeiten« und Weisse's »Scherzhafte Lieder« hervorgegangen waren, wurde Brawe geführt. Lessing und Weisse, durch die gleiche Neigung zum Theater verbunden, haben auch ihn für das Schauspiel gewonnen. Den Winter von 1757 auf 1758 kam auch Ewald von Kleist mit seinem Regimente in Leipzig zu liegen, und in seinem Hause fanden sich die Freunde zusammen, um dem Gotte der Freude, der Freundschaft und des Weines zu opfern. Brawe, ein Anhänger des Crusius, philosophirte mit Lessing, der ihn gerne, wie es später auch größeren Philosophen gegenüber seine Art blieb, in Widersprüche verwickelte. Niemand ahnte, daß über zweien aus dem heiteren Bunde bereits die Keren des Todes schwebten. Unser Brawe schied als der frühere. Zum Besuche seines Vaters reiste er Ende März 1758 nach Dresden, wurde dort von einem heftigen Fieber ergriffen und starb am 7. April. Ein Monat später machte sich Kleist auf den Marsch; nach Lessing's Abgang und Brawe's Tode war ihm Leipzig verödet, so schön es auch sonst war. Auch er sah die Freunde nicht wieder.

Und in diesem kurzen Leben von kaum mehr als zwanzig Jahren soll Bedeutung genug für die Literaturgeschichte liegen, daß sich nach mehr als hundert Jahren noch ein gedrucktes Memorial [*] verlohnte? Wer mich darum auf das Gewissen fragt, dem antworte ich ein entschiedenes: Ja. Ich halte Brawe für ein so energisches Dichtertalent, als je eines im Drama thätig gewesen ist. Das sagen deutlich die Vorzüge seiner beiden Jugenddramen, das sagen noch deutlicher ihre Fehler. Lessing wußte, auf wen er seine Hoffnung gesetzt hatte. Heinrich Kurz aber, der Brawe's Stücke mit denen des Cronegk auf eine Stufe setzt, muß diese oder jene, oder alle beide nicht gelesen haben.

Brawe's Talent wurde geweckt und berufen. Geweckt durch Nicolai's Preisausschreibung, berufen von Lessing. Mit der Ankündigung der »Bibliothek der Wissenschaften« verband Nicolai im Frühjahre 1756 für das beste Trauerspiel »über eine beliebige Geschichte« die Preisausschreibung von 50 Thalern, welche vielfache Anregungen gab. Lessing begann an das Sujet einer bürgerlichen Virginia zu denken, woraus später die »Emilia Galotti« entstand; Kleisten ermunterte er in einer Ode zum »Seneka«, den dieser aber erst Anfangs 1758 zu Ende brachte; Brawe schrieb seinen »Freigeist«; Weisse und auch Gerstenberg begannen an das höhere Trauerspiel zu denken. Cronegk vollendete seinen »Codrus«, den er schon in Paris der Graffigny vorgelesen hatte. An der Concurrenz betheiligten sich aber nur drei Stücke; ein seltsames Zeichen eines bescheidenen Jahrhundertes! Außer dem »Codrus« und dem »Freigeist« bewarb sich ein gewisser Breithaupt mit seinem »Renegaten« um den Preis. Hinkende liefen um die Wette, wie Lessing in der »Dramaturgie« sagt, und der den Preis davon trug, war noch immer ein Lahmer. Dieser glückliche Sieger war Cronegk. Die Sentiments in seinem Stücke waren angemessener (vielleicht auch abgemessener), wie die Kunstrichter meinten, und der Ausdruck und die Schreibart anständiger und ausgearbeiteter. Lessing, der Anfangs widersprach, bekannte sich leider später zu derselben Ansicht.

Da Cronegk vor der Entscheidung gestorben war, wurde der nunmehr verdoppelte Preis neuerdings ausgesetzt. Die Talentlosigkeit ist durch nichts abzuschrecken, daher war Breithaupt wieder mit einem Opus zur Hand: mit einer Al[e]xandriner-Tragödie: »Barbarossa und Zaphire«, nach Mendelssohn's Urtheil in den »Literaturbriefen« ein erbärmliches Stück. Weisse hatte nach Cronegk's und Brawe's Tod seinen »Eduard III.« geschrieben, mußte aber vor der preisrichterlichen Entscheidung sein Stück zurückziehen, weil er die »Bibliothek« selber zu redigiren übernommen hatte. Da keine anderen des Preises würdige Stücke einliefen, wurde wirklich Breithaupt's Machwerk mit dem Preise beehrt.

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In dem »Freigeist« war Brawe Lessing's Beispiele gefolgt und hatte sein bürgerliches Trauerspiel in Prosa geschrieben. Lessing begann, wie Sauer nachweist, um diese Zeit den »Kleonnis« in fünffüßigen Jamben, ließ ihn aber liegen. Brawe setzte das Werk seines Meisters fort und dichtete im Jahre 1757 seinen »Brutus«, eine historische Tragödie, in fünffüßigen Jamben. Gerade diese Neuerung aber, um derentwillen uns heute das Stück besonders interessant erscheint, hat es im vorigen Jahrhunderte von der Bühne ferne gehalten. Unser Burgtheater wagte am 20. August 1770 eine Aufführung, aber der ungewohnte Vers warf das Stück zu den Todten. Bedeutend aber bleibt es immer, daß das Burgtheater die erste Tragödie in Jamben zuerst zu geben wagte; dasselbe Haus, in welchem Anschütz den Jambenton mehr als ein halbes Jahrhundert späte zur Classicität entwickelte.

Brawe ist nicht frei von allen Einflüssen der französischen Tragödie. Die langathmigen Reden der Personen welche in der Alexandriner-Tragödie mit der schweren Rüstung des Reimes beladen erscheinen, kehren in Brawe's Stücken in der Prosa und im Jambus oft seitenlang wieder. Die Bedienten und Vertrauten des französischen Trauerspiels, welchen alles beigebracht wird, was der Zuschauer erfahren muß, spielen noch immer eine große Rolle. Der erste Akt des »Freigeist« geht damit auf, daß die beiden Hauptpersonen ihren Bedienten das Geschehene und Vorhabende erzählen. Charakteristisch für die Gottsched'sche Nachbildung des französischen Trauerspiels ist es, daß die Handlung im besten Falle im dritten, oft auch erst im vierten Acte beginnt. Alles Andere ist Erzählung und Exposition. Auch bei Brawe, besonders im »Freigeist«, nimmt die Erzählung noch einen breiten Raum ein. Nach Art des französischen Trauerspiels sind auch alle Ensemble-Scenen gemieden; es erscheinen nie mehr als drei Personen auf der Bühne. Mit der Erzählung eines Traumes beginnt sowohl der »Freigeist« als »Brutus«; auch diese Situation ist in den nach Gottsched's Muster verfertigten Stücken stereotyp.

Dabei benützte Brawe auch die Motive des bürgerlichen Trauerspiels, wie es durch Lessing's »Miß Sara Sampson« eben begründet war; die Geliebte, welche ihrem ungetreuen Liebhaber folgt, wandert von »Miß Sara Sampson« durch Weisse's Stücke hindurch bis in Goethe's »Stella«. Der Vaterfluch ist gleichfalls ein bürgerliches Motiv. Dazu kommen bei Brawe noch die Einflüsse der Engländer, und zwar ihrer französirenden, regelmäßigen Dichter: Young's und Addison's.

Auch unter einander weisen die Stücke Brawe's Erfindung und Darstellung der Leidenschaft mannigfache Uebereinstimmung auf. Die jugendliche Phantasie des Dichters ergeht sich noch gern in denselben Situationen. Im »Freigeist« verleitet Henley seinen Nebenbuhler Clerdon zu Ausschweifungen, Verbrechen und Freigeisterei. Granvilla [sic!], dessen Schwester Clerdon liebt, sucht ihn zu retten. Aber Henley weiß Clerdon gegen Granwilla [sic!] derart aufzubringen, daß er ihn im Zweikampf tödtet. Clerdon zum Mörder des Freundes zu machen und dadurch auf Erden und im Himmel zu vernichten, war Henley's teuflischer Plan, den er dann auch triumphirend seinem Gegner enthüllt. Clerdon tödtet erst Henley, dann sich selbst.

Aehnlich ist das Motiv des »Brutus.« Publius, ein Samniter und Feind des römischen Namens, hat den Sohn des Brutus, Marcius, welchen der Vater bei Mutina für verloren hielt, gerettet. Er zieht ihn im Hasse gegen Rom und insbesondere gegen Brutus auf. Im Haine der Furien läßt er ihn den Eid schwören, Rom und Brutus zu verderben, und schickt ihn in's Lager der Römer. Aber Marcius wird von Brutus' Größe besiegt, eine geheimnißvolle Stimme zieht ihn zu dem Vater. Publius gibt vor, sein Leben verpfändet zu haben, daß Marcius den Brutus tödte. Marcius scheut vor dem vermeintlichen Vatermord, und entscheidet wirklich durch seinen Abfall den Untergang des römischen Heeres. Publius enthüllt auch hier, wie Henley im »Freigeist«, dem Brutus seinen Racheplan, und daß Marcius sein Sohn sei. In der Schlacht treffen Brutus und Marcius zusammen; und um seinem Sohne den Frevel des Vatermordes zu ersparen, stürzt sich Brutus in das eigene Schwert.

Das Motiv der ausgeklügelten, grenzenlosen Rache ist dasselbe in beiden Stücken. Es ist wahr, daß Henley und Publius nur Teufel sind. Aber wie geschickt der Dichter beide Intriganten zu motiviren versteht, verdient in Betracht gezogen zu werden. In beiden Stücken ist es ein Haß von Haus zu Haus, von Stamm zu Stamm, der die Gemüther erhitzt. Henley sagt: »Unsere beiden Häuser sind stets theils durch die Bande der Verwandtschaft, theils durch die <Seite 558:> Nachbarschaft ihrer Güter und andere Umstände verknüpft gewesen, und eben diese genauen Verbindungen haben unaufhörlich eine geheime Eifersucht unter ihnen genährt.« Henley verschwindet neben Clerdon, das steigert den ererbten Groll: »Ueberall verdunkelte er alle seine Freunde, man vergaß ihrer, oder kannte sie nur unter dem Charakter – seiner Freunde. Meine Eifersucht ward aufgebracht.« Sie verdoppelt sich, als Clerdon bei verschiedenen Gelegenheiten, als Beide sich um einerlei Bedienungen bewarben, Hoffnungen erhielt, die man Henley versagte. »Ueberall mußten wir Nebenbuhler sein und überall siegte er.« Endlich streben Beide nach der Gunst einer einzigen Geliebten; auch hier wird Henley verworfen, und Clerdon ist der Begünstigte. Die Art der Rache, welche Henley ausklügelt, erinnert an Franz Moor: »Eben diese glänzenden Vorzüge, diese so gerühmten Tugenden, durch die er mir überlegen ward, beschloß ich ihm zu rauben; aus dieser erhabenen Sphäre ihn herabzustoßen, ihn zum Lasterhaften, zum Frevler, ja, wo möglich zum Ungeheuer zu erniedrigen, ihn mit eben so viel Schande zu überhäufen, als ihn zuvor Ehre krönte; und endlich, wenn ich ihn zu dem schwärzesten Verbrechen hingerissen, ihn noch vielleicht jenseits des Grabes – o! wie schwellt mein Herz der stolze Gedanke auf! – beseufzen zu lassen, daß er mich jemals beleidigte.« Henley selber ist kein Freigeist: »Rede ich gleich die Sprache des Freigeists, so fällt es mir doch schwer, so zu denken. – Wie sehr wünschte ich das Gegentheil. – Vielleicht würde ich selbst ein eifriger Verehrer der Religion sein, besäße ich nicht das, was große Geister Ehre, der gemeine Haufe Rachgier nennt.« Er hält sich durch Jugend und Gesundheit gesichert und hofft noch auf Versöhnung mit Gott während seines Lebens: »Das Alter wird vielleicht dieses qualvolle Feuer bändigen, und wenn meine Feinde schon lange eine Beute des Verderbens geworden sind, werde ich noch Zeit haben. –«

Ganz dieselbe Figur ist Publius im »Brutus«. Er haßt in dem Helden schon den Römer, den Unterdrücker Samniums; er haßt in ihm den Sohn des Mannes, der ihm Vater und Bruder getödtet, er haßt in ihm den Mörder Cäsar's. Brawe drückt seinen Intriganten den Pfahl in's Fleisch, daß es schwieren muß. Er setzt ihnen im Innersten zu, und ihre Handlungsweise, so sehr sie über die Grenzen der Wahrscheinlichkeit und Menschlichkeit hinausgeht, ist doch nicht Action von Marionetten, wie die Dichter der Alexandriner-Tragödie immer ihre Intriganten am Schnürchen führen; es ist tiefe, aus dem Innersten quellende Leidenschaft. Wer Gegensätze wie Henley und Clerdon, Publius und Brutus einander gegenüber setzen kann, hat sein Probestück als Dramatiker geleistet. Es ist etwas von dem Gegensatze zwischen Carl und Franz Moor in ihnen. Es sind Gegensätze, wie sie nur der Verstand zu Wege bringen kann, übertriebene Gegensätze, aber doch solche, die sich aufreiben müssen. Man begreift ganz gut, warum besonders die Dichter der Sturm- und Drangzeit, deren Blick sonst nicht leicht auf die Vergangenheit gerichtet war, an Brawe's »Freigeist« Gefallen fanden.

Es ist eine ganz müssige Frage, ob Brawe bei längerem Leben sich selbst für seine Tragödie die classische Form geschaffen hätte. Vielleicht hätte er es durch Lessing's Beistand zu Wege gebracht. Ich behaupte auch nicht mehr, als daß aus Brawe's Stücken unleugbares und echtes dramatisches Talent zu uns spricht. Und daß dieses Talent auch im Stande war, sich in den Grenzen einer kunstmäßigen Form zu halten, dafür bietet uns der »Brutus« den Beleg, der regelmäßiger ist als der »Freigeist«, ohne deßhalb kälter zu sein.

Im »Freigeist« wird noch arg gegen die Wahrscheinlichkeit gefehlt. Die Personen gehen um einander herum, jedem liegt das lösende Wort auf der Zunge, welches das Stück ohne Blut zu enden vermag, aber keiner wagt es auszusprechen. Das ist gleichfalls Einfluß der Franzosen. Noch heute bauen französische Dichter auf die geschickte Umgehung eines Namens oder Wortes ihre Comödien; in der classischen Tragödie sagte man überhaupt nur den Vertrauten die Wahrheit. Andere Fehler hat Sauer glücklich hervorgehoben. Zwar gegen Einen Einwurf Sauer's glaube ich unseren Dichter rechtfertigen zu können. Unser Verfasser findet es auffällig, daß Clerdon und Henley ihre Diener zu Vertrauten haben. »Beide Diener sind tugendhaft oder beweisen sich so im Stück. Ist es wahrscheinlich, daß Henley, der einen so tief angelegten Racheplan durchführt, den Diener, dessen Entsetzen er sieht, weiter einweihen wird?« Aber Widston, Henley's Bedienter ist weder tugendhaft, noch beweist er sich so im Stück. Als er von dem teuflischen Plane Kunde erhält, entfärbt er sich allerdings. Aber er ist doch in Henley's Bosheiten eingeweiht und fragt sogleich: »Clerdon ist Ihr Nebenbuhler? und noch mehr, ein begün- <Seite 559:> stigter? und Clerdon lebt noch?« Und später: »Mir erweckt es Grausen, der ich ein so gefälliger Diener der Bosheit meines Herrn bin; mir, der ich Verbrechen genug verübt, selbst dieses Unmenschen Vertrauen zu gewinnen.« Und was er im Stück thut, ist nichts als eine neue Schurkerei. »Mich selbst lehrt er (Henley) die vergessene Menschlichkeit wieder. Ja, ich folge ihrem Rufe, ich folge dem deinigen, o Himmel! Vielleicht öffnest du mir hier einen Weg, alle meine Verbrechen zu vergütigen.« Durch den Verrath seines Herrn will er sich aus der Schlinge ziehen, und als seine Warnerrolle entdeckt ist, dient er nach wie vor dem Schurken weiter.

»Brutus« ist, wie gesagt, das regelmäßigere Stück; die Unwahrscheinlichkeiten nehmen ab, der Bau des Stückes ist fester. Aber der junge leidenschaftliche Marcius wächst auch hier noch dem Stoiker Brutus über den Kopf. Marcius ist eigentlich der Held des Stückes. Er kämpft den tragischen Conflict durch; er versucht die Peripetie: indem er den Vatermord umgehen will, fällt er ihm anheim; er vollbringt die pathetische That; er fällt von dem römischen Heere ab und dringt auf Brutus ein. Daß Brutus sich selbst tödtet, macht den Vatermord nicht weniger zur Schuld des Marcius. Brutus leidet nur, und so nimmt er auch hier die That des Andern vorweg und als Leiden auf sich. Marcius ist in gewissem Sinne ein Vorläufer des Philotas. Im Jahre 1767 behandelte C. F. Weisse das Sujet der Belagerung von Theben in einem Trauerspiele. Wie in Brawe's Stück die historische Person des Brutus, so werden dort Epaminondas und Pelopidas bei Seite geschoben, und die erdichtete Figur eines Heldenjünglings (Kallikrates) bemächtigt sich der Handlung.

Ein paar Worte über den Vers werden genügen. Wer lange hintereinander Trauerspiele in Alexandrinern liest, dem drängt sich unwillkürlich die Ansicht auf, daß der Alexandriner der deutschen Sprache niemals homogen war. Der Alexandriner beruht durchaus auf der Antithese. Er setzt eine fertige Sprache voraus, welche die feinsten Gegensätze auszudrücken und wirksam einander gegenüberzustellen vermag. Diese Präcision und Entschiedenheit des Ausdruckes hat unsere Sprache auch heute, nach der Periode der großen Classiker, noch nicht und hatte sie noch weniger im vorigen Jahrhundert. Vielleicht bleibt uns Deutschen mit dem beweglichen Geiste der Franzosen, auch das Schlagfertige ihres Ausdruckes für immer versagt. Ein interessantes Thema für sprachliche Untersuchungen könnte es abgeben, zu forschen, inwieweit der Alexandriner der Verschärfung und Präcisirung des Ausdruckes unserer Sprache genützt habe. Jedenfalls aber hat der Alexandriner mehr der Sprache genützt, als daß sich die Sprache in seiner Zwangsjacke wohl gefühlt hätte. Genau genommen, besteht im alexandrinischen Couplet ein dreifacher Gegensatz: Der erste Halbvers steht dem zweiten, der dritte dem vierten entgegen, und die erste und zweite Langzeile, welche durch den Reim verbunden sind, correspondiren gleichfalls. Das typische Beispiel für eine Langzeile bleibt immer:

Oenone: Ils ne se verront jamais. –
Phädra:                              Ils s'aimeront toujours.

Ich bin in dieser Anzeige vielleicht zu sehr meinen eigenen Weg gegangen, als daß ich den Inhalt des Sauer'schen Buches hätte erschöpfen können. Man wird aber durch meine Zeilen sich veranlaßt finden, das Buch zur anregenden Lectüre selbst in die Hand zu nehmen, und damit hätte ich das höchste Ziel jeder Anzeige erreicht. Der Abschnitt, welcher Miß Sara Sampson's allernächste Nachkommenschaft Revue passiren läßt, und die Motive des bürgerlichen Trauerspiels zuerst einer eingehenden Prüfung unterwirft, sowie das Capitel über die Freigeisterei in Deutschland zur Zeit Lessing's, werden immer dankbare Leser finden.

Habent sua fata libelli! Der Autor ist gegenwärtig darauf aus, als k. k. Reserve-Lieutenant in der Occupations-Armee Cultur nach Bosnien zu tragen. Möge ihm eine glückliche Wiederkehr gegönnt sein.


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[*] Joachim Wilhelm von Brawe, der Schüler Lessing's. Von August Sauer. (»Quellen und Forschungen« 30. Heft. Red. von Scherer.) Straßburg, Trübner. 1878.

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