Werner, Richard Maria: Aus Lessings Schule. [Rezension zu August Sauer: Joachim Wilhelm von Brawe, der Schüler Lessings.] In: Beilage zur Wiener Abendpost, 9.–11. Oktober 1878, Nr. 233–235. (Faksimiles: S. [929], S. 930, S. [933], S. [937], S. 938.)
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Aus Lessings Schule.
Joachim Wilhelm v. Brawe, der Schüler Lessings. Von August Sauer. Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker. XXX. Heft. Straßburg. Karl J. Trübner. London, Trübner u. Comp., 1878.
Von Dr. Richard Maria Werner.
I.
Leipzig, das zierliche zubenamset, zeichnete sich im vorigen Jahrhunderte durch seine Geselligkeit aus; Vergnügungen und Zusammenkünfte schienen das Ideal des Lebens. Eine Madame Leukoranda bewies sogar »in einem besondern Tractätgen,« daß »das Frauenzimmer sowohl als die Mannspersonen zum gesellschaftlichen Umgange erschaffen wären;« man könne »in einer ehrbaren Gesellschaft so viel lernen, daß man darnach den Männern im Haushalte etliche Duzzend Dukaten ersparet«. (Der Jungfern-Taxator. 1764. S. 68 f.) Alle Kreise, alle Stände, die alten Herren und Damen, die Junggesellen und das Frauenzimmer, Vornehme und Geringe hatten ihre Zusammenkünfte. Die Einen saßen beim Biere zusammen und politisirten, wenn sich nicht etwa ein Unterofficier sehen ließ; die Andern, »geputzte Messieurs, junge artige Herren«, versammelten sich auf einem Saale, um mit den »Mädgen« zu schäkern, zu spielen, zu tanzen, zu liebeln. (»Der Leipziger Spaziergänger in Begebenheiten. Kosmopoli.« 1765, S. 13.) Es ging gar bunt zu, denn wenn man nur artig und zierlich seine Worte zu setzen wußte, durfte man sich gar Manches erlauben. Wenn sich zwei junge Herren sahen, da gab es zuerst lange, wohlgewählte Complimente: »Gehorsamer Diener, mein Herr, es ist mir sehr angenehm, Ihnen von ohngefähr in dem Apolischen Garten zu sprechen, ich habe vielmals in Neja (Jena) an Ihnen gedacht. Wie befinden Sie sich denn in Leipzig, geht es Ihnen denn recht wohl?« Dann wurde ein Gespräch begonnen, das voll Scherz und »Witzgen« die Leipziger ausspottete, der kleine Stadtklatsch wurde durchgenommen, daß man neulich einem alten Manne, der nochmals geheiratet habe, einen Strohmann vor die Thüre setzte, und so fort, und schließlich, man mochte wollen oder nicht, kam das Gespräch sicherlich aufs Theater und auf die Koch'sche Truppe. Da hieß es wohl:
»Mr. Florian: Wie viel schlägt der Seiger? Ist das vier Uhr? Was spielen sie heute vor Komödie? Koch spielet doch heute?
Mr. Sittewald: Ja, mein Herr, heute und morgen zum letzten Male außer der Messe, heute spielen sie das »Muttersöhnchen«, da setzt es was zu lachen, da kann man die Fehler junger Herren, junger Mädchen und auch der Eltern dabei bemerken. Morgen spielen Sie den »Poeten vom Lande«; da hecheln sie die stolzen Landjunker brav, und da kann man sehen, wie es läßt, wenn man schlechte Lebensart hat und sich doch dabei auf seine Glücksvorzüge verläßt; Tugend adelt; ob man gleich keinem Stande damit zu nahe tritt und nur die Unartigen durchziehet, damit sie auch weise werden sollen. Was wollen Sie mich weiter fragen?
Mr. Florian: Sind Sie ein Liebhaber von Lustspielen? Mir gefallen die Trauerspiele weit besser. Zum Exempel »Zaira«, »Der Kaufmann von London« und dergleichen, die haben mich so gerührt, daß ich es Ihnen nicht sagen kann«, u. s. w., u. s. w. (»Die jungen Herren im Grünen«. 1765. S. 1 und 28 f.)
Wenn schon in den Kreisen von »Kaufmannsdienern« und ihren »Amasien« das Hauptinteresse auf das Theater gerichtet war, wie dann erst bei den jungen Leuten, welche sich im Winter von 1757 auf 1758 bei »dem Herrn von Kleist« versammelten. Zu ihnen gehörte vor Allem Lessing, dann sein Jugendfreund Christian Felix Weisse, ferner Moriz August v. Thümmel, Christian August Clodius und endlich Joachim Wilhelm v. Brawe. Alle hatten dichterische Bestrebungen, alle neigten in jener Zeit, von Lessing geführt, dem Drama zu. Kein Wunder, daß in den Abendgesellschaften Christian Ewalds v. Kleist die Rede sehr oft, ja meist von Theater war und daß hier der Homunculus gebraut wurde, der sich lebenskräftig erwies: das moderne deutsche Drama.
In diesen Kreis werden wir durch Sauers Buch versetzt, das zwar hauptsächlich den jung verstorbenen Joachim Wilhelm v. Brawe zum Gegenstande hat, jedoch über die ganzen Bestrebungen Lessings und seiner Schule Licht verbreitet und in vortrefflicher Weise die Fäden aufdeckt, durch welche die Verbindung zwischen Lessing und der Zeitliteratur hergestellt wird. Sauers Erstlingswerk macht dem Verfasser und seiner Schule alle Ehre und hat für jeden Oesterreicher darum doppeltes Interesse, weil Dr. Sauer als k. k. Reservelieutenant gerade in dem Zeitpunkte zur Occupationsarmee einrücken mußte, als sein Buch erschien. Gewiß wird aber Jeder, welcher sich in der Literatur nur ein wenig umgethan hat, das Buch nicht ohne tiefe Trauer aufschlagen, wenn er die Worte der Widmung liest: »Karl Tomaschek in Dankbarkeit zugeeignet«. Karl Tomaschek, der auch diese schöne Arbeit veranlaßt, wurde uns ja kürzlich entrissen und wir alle, seine Schüler, empfinden doppelt, was wir an ihm verlieren, wissen jedoch auch, daß er im Herzen eines jeden von uns fortleben wird.
Joachim Wilhelm v. Brawe, aus einem alten deutschen Adelsgeschlechte stammend, wurde am 4. Februar 1738 zu Weißenfels geboren. Sein Vater bekleidete verschiedene einflußreiche Aemter bei der Regierung des Herzogthums Sachsen-Weißenfels, war zuletzt Vicekanzler daselbst und kam dann als geheimer Kammer- und Bergrath zum Cameralcollegium in Dresden. Die Mutter unseres Dichters, eine geborne v. Heßberg, starb früh, und als der Vater zum zweiten Male sich verehelichte, war Joachim Wilhelm bereits auf Schulpforta, so daß er der weiblichen Erziehung fast ganz entbehren mußte. Damit bringt es Sauer sehr richtig in Verbindung, daß in Brawe's Dramen wohl das Verhältniß zwischen Vater und Sohn auf das stärkste betont, der Name Mutter jedoch nie auch nur genannt wird.
Vom 27. Mai 1750 bis 28. Jänner 1755 war Brawe in Pforta; als ein »sehr fähiger Kopf bei einem schwachen Körper«, wie es im »Album Portense« über ihn heißt, bezog er die Universität Leipzig und wurde am 1. Februar 1755 immatriculirt. Die größte Förderung fand er hier jedoch nicht in den Vorlesungen, sondern im persönlichen Verkehre mit Lessing und seinen Freunden; hier, in Lessings Schule, entwickelte sich sein Talent rasch; ein Aufschwung sondergleichen; doch schon am 7. April 1758 raffte der Tod den kaum zwanzigjährigen Jüngling dahin. Er starb, betrauert von ganz Deutschland, das »ein künftiges großes Genie« in ihm verlor, wie Kleist an Gleim schrieb.
Er hat sich mit zwei Dramen verewigt, die so ganz den Stempel Lessing'schen Geistes tragen, daß Sauer mit Recht dem Titel seines Buches »der Schüler Lessings« hinzusetzte. Zwei Dinge sind es vor Allem, die Brawe von seinem Lehrer gelernt hatte: das bürgerliche Trauerspiel und den fünffüßigen Jambus.
Im Jahre 1756 schrieb Nicolai bei Gründung der ersten Bibliothek »für das beste Trauerspiel über eine beliebige Geschichte« einen Preis von fünfzig Reichsthalern aus; der Termin der Einsendung wurde auf Ende 1756 festgesetzt, aber bis zum October 1757 verlängert. Die Wirkung blieb nicht aus: Lessing entwarf den Plan zur »Emilia Galotti«, Kleist begann seinen »Seneca«, Weisse seinen »Eduard III.«, beide kamen zu spät. Cronegk nahm sein schon früher begonnenes Trauerspiel »Codrus« wieder auf und sendete es ein, und Brawe endlich schritt zur Ausarbeitung seines ersten dramatischen Versuches »Der Freigeist«, welcher seinen Ruf als Dramatiker begründete.
Ein junger Engländer, Namens Clerdon, wird von seinem Nebenbuhler Henley, einem Teufel in Menschengestalt, zu Verbrechen aller Art und zur Freigeisterei verleitet. Durch Schulden gezwungen, flieht Clerdon; Henley geht mit ihm, um sein Verführungswerk zu vollenden, das er im ersten Auftritte seinem Diener gegenüber entwickelt und das Stück hindurch programmmäßig durchführt. Aber auch der edle Granville, dessen Schwester Amalia von Clerdon geliebt und verlassen ward, folgt dem Verführten und sucht ihn durch sanftes Zureden auf den rechten Weg zurückzubringen. In einem Gasthofe einer abgelegenen Stadt des nördlichen England beginnt das Drama. Es besteht aus einem Herüber und Hinüber. Granville sucht durch die Schilderung des traurigen Todes, den Clerdons Vater erlitten, den Sohn zu rühren. Henley arbeitet mit gefälschten Briefen, Verleumdungen u. dgl. Clerdon wird immer mehr verwirrt, hält Granville für seinen Feind, sucht ihn auf und tödtet ihn im Duell. Der sterbende Granville verzeiht und empfiehlt seine Schwester Amalia seinem Mörder. Dieser kämpft mit sich selbst und da ihn Amalia bittet, ihren Bruder an seinen Mördern zu rächen, gesteht er Alles und wird verflucht. Eine Verzeihung von Seite Amaliens kommt zu spät, Clerdon tödtet Henley, welcher ihm seinen Racheplan auseinandersetzt, und ersticht sich hierauf selbst.
Man sieht, der Inhalt ist bei aller Aermlichkeit der Handlung verwickelt genug, und doch begnügte ich mich mit der Anführung der wichtigsten Ereignisse; man kann erst aus dem meisterhaften Scenarium Sauers (S. 23–28) ermessen, welche Hebel in Bewegung gesetzt werden, um die Katastrophe wahrscheinlich zu machen.
Zugleich wird aber schon aus diesen allgemeinen Andeutungen das Eine große Vorbild Brawe's hervorgeleuchtet haben: Miß Sara Sampson. Ueber die Einwirkung derselben auf die Literatur unterrichtet das vierte Capitel in Sauers Buche. Er weist noch ein anderes Muster nach: Youngs »The Revenge«. Hier ist das Motiv der Rache um jeden Preis, hier sind in Zanga (Henley), Don Alonso (Clerdon), Don Carlos (Granville) einige Personen des »Freigeistes«, hier sind ferner ganze Scenen bereits vorhanden, die Brawe bei seinem Trauerspiele verwerthete.
Zanga, ein gefangener Mohrenfürst, weiß durch Lügen und untergeschobene Briefe seinen Herrn Alonso dahin zu bringen, daß er glaubt, seine Gattin und sein Freund Don Carlos hätten die Ehe gebrochen. Er läßt seinen Freund tödten, dann, als ihm der triumphirende Zanga den wahren Sachverhalt darlegt, befiehlt er, ihn unschädlich zu machen, und giebt sich selbst den Tod. – Die Parallelität der Handlungen ist auffallend. Im »Freigeist« wie in der »Rache« entwickelt der Intrigant seinen Racheplan – hier einer Geliebten, Isabella gegenüber, – in beiden Dramen führt er ihn genau durch und enthüllt ihn zum Schlusse seinem Opfer mit teuflischer Schadenfreude. Die ganze Atmosphäre theilt der »Freigeist« mit »The Revenge« [*] und dies fiel auch sogleich beim Erscheinen des Brawe'schen Werkes auf, hinderte jedoch dessen Wirkung nicht. Eine lange Reihe von Aufführungen läßt sich nachweisen, und Lessing wie Herder schätzten das Trauerspiel sehr.
Brawe nannte seinen Helden: Freigeist, und bezeichnete ihn dadurch im Einklange mit seiner Zeit als einen dem Teufel Verfallenen. Sauer gibt in dem Abschnitte: »Die Freigeisterei« (S. 34–42) eine Entwicklung des Begriffes, der von dem englischen Free-thinker ausgeht und Deisten, Atheisten und die englischen Freidenker umfaßt. Es galt vielen dieser Zustand als der schrecklichste; man war verloren, wenn man einmal das Glaubensbekenntniß des Unglaubens abgelegt hatte, denn das konnte man; man konnte einer Gesellschaft beitreten oder sonst wie öffentlich erklären: »von heute an bin ich Freigeist«, und dann: »Wer tröstet ihn im Elend, welcher geheime Zuschauer belebt seine edelsten Handlungen; welche Stimme flüstert zu seinem Herzen; welchen Preiß kann er für
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seine Tugenden erwerben, und mit welcher Miene muß er den Tod ansehen?« So schildert Clarisse in dem Stücke »Die Schule der Freigeister« von Paul Weidmann [*], III. 8. (S. 53), den Freigeist. Man konnte sich jedoch noch retten, man brauchte nur aus der Gesellschaft auszutreten und seine »freigeisterischen Grundsätze« zu desavouiren, und man hörte auf, ein räudiges Schaf zu sein. Ob es Vereine der Freigeister gab, konnte Sauer nicht ermitteln, nur eine Stelle in einem Briefe Gleims an Kleist von Berlin (23. September 1747) läßt dies schließen.
Man bezeichnete jede Neuerung als Freigeisterei und hieß jeden schlechten Menschen einen Freigeist; eine Zeitlang galt auch »starker Geist« für ein epitheton ornans, seit dem Auftreten Goethe's erbte jedoch das Wort »Genie« alles Schmeichelhafte, das man unter Freigeist und starker Geist verstanden hatte, und es ist geradezu schauderhaft, was in Haase's »Geschichte eines Genie's« einem solchen zugetraut wird.
Auch bei Brawe wird der Zustand eines Freigeistes für ein furchtbares Unglück gehalten, für das furchtbarste vielleicht, das es giebt. Henley freut sich, daß er sein Opfer so weit gebracht, – Selbstmord ist das entsetzliche Ende Clerdons.
Man muß gestehen, das Drama Brawe's hat manche Seite, die großes dramatisches Talent verräth, und wir begreifen, daß Lessing ihm vor dem »Codrus« Cronegks den Vorzug gab. Die beiden anderen Preisrichter Nicolai und Mendelssohn waren nicht seiner Meinung, sondern krönten die langweilige, steife Alexandriner-Tragödie »Codrus«, die man nur mit Widerstreben zu Ende liest.
Brawe wurde durch diese Zurücksetzung jedoch nicht abgeschreckt, er hinterließ eine zweite dramatische Arbeit, die für ihre Zeit etwas Erstaunliches hatte. So heißt es z. B. im »Almanach für Dichter und schöne Geister, auf das Jahr 1785«, S. 9 [**]): »Noch glänzender erscheint sein Genie in dem Stücke: »Brutus«, denn es ist um so merkwürdiger, da es der erste Versuch in Jamben ist und daß ein junger Mann ihn wagte, ehe noch die Kunstrichter die Jamben den tragischen Dichtern empfohlen hatten.«
Dem ist nun freilich nach Sauers überzeugendem Nachweise nicht so; Brawe war das Versmaß von einem »Kunstrichter« empfohlen worden, der damals und jetzt als der bedeutendste galt und gilt: von Lessing.
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Joachim Wilhelm v. Brawe, der Schüler Lessings. Von August Sauer. Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker. XXX. Heft. Straßburg. Karl J. Trübner. London, Trübner u. Comp., 1878.
Von Dr. Richard Maria Werner.
II. [*]
Bei der Erstürmung der Stadt Mutina hat Publius, ein Samniter, dessen Vater und Brüder durch Brutus' Vater wegen Hochverrathes hingerichtet worden, den zweijährigen Sohn von Cäsars Mörder gerettet, ihn für seinen Sohn Marcius ausgegeben und zum Rächer an Brutus auferzogen. Dieser hatte an Marcius, der scheinbar als Ueberläufer zu den Römern gekommen war, Gefallen gefunden und ihm sogar einen Theil des Heeres anvertraut.
Am Morgen der Schlacht von Philippi macht Publius als Gesandter Anerbietungen, um Brutus zum Frieden zu bewegen. Brutus will keinen monarchischen Gelüsten folgen und ruft daher die Senatoren zur Berathung; alle sind mit ihm für den Krieg, nur Servilius und Marcius stimmen für Frieden. Da theilt Publius dem erstaunten Brutus mit, bei Antonius sei sein, des Brutus, Sohn und werde ihm sogleich geschickt, wenn er nicht den Krieg wähle, in welchem Falle sein Sohn sterben müsse. Brutus siegt über seine innere Schwäche und entscheidet sich für Krieg. Marcius will seines Racheeides, den er im Haine der Furien geschworen, von seinem vermeintlichen Vater Publius entbunden sein und fliehen oder sterben, um Brutus nicht verrathen zu müssen. Publius behauptet nun, seinen eigenen Kopf für des Marcius Treue bei Antonius verbürgt zu haben, und stellt Marcius zwischen die furchtbare Alternative: Meineid und Vatermord oder Untergang des Brutus. Marcius entscheidet sich:
Es sei! – Ich will den Brutus und die Welt
Verrathen. – Freiheit, Rom und Brutus fällt
Durch mich.
Ein Brief verdächtigt Marcius bei Brutus der Verrätherei; Brutus glaubt nicht daran, sondern übergiebt seinem Sohne das Schreiben. Marcius bittet fußfällig um seinen Tod; Brutus meint, er habe ihn durch seinen kurzen Zweifel an seiner Treue beleidigt und will Verzeihung. Die Scene, die nun folgt, wie Marcius Alles gestehen will und abgerissene Worte hervorstößt, von denen Brutus nur das Wort »Vater« versteht und dadurch an seinen Sohn erinnert wird, ist wirklich tief ergreifend und geschickt gemacht. Das Geständniß wird durch den Beginn der Schlacht unterbrochen. Das Schicksal hat seinen Lauf. Marcius fällt ab und entscheidet dadurch die Schlacht; er dringt auf Brutus, dem Publius seinen ganzen Racheplan enthüllt hatte, ein. Brutus stürzt sich in sein eigenes Schwert. Nach langen Bitten verzeiht er dem Marcius. Dieser verflucht den Antonius und tödtet sich selbst.
So hat Brawe eine Familientragödie mit historischem Hintergrunde gegeben, wobei er wieder die Rache als die entsetzliche Triebfeder der Handlungen hinstellt, eine Rache, so ausgesucht grausam, so raffinirt, Jahre und Jahre hindurch gehegt und ausgeführt, daß sie nur einem Ungeheuer wie Publius zugeschrieben werden durfte. Gerade Rache ist es aber auch, die wir in einer Reihe von Dramen bis zum Schlusse der Genieperiode hin verfolgen können, variirt durch die verschiedensten Combinationen: einmal ist es ein abgewiesener Freier, der als Verwalter den Landmann aus Rache zu Grunde richtet, um seine schändlichen Absichten durchzusetzen [*]; das andere Mal ein reicher Bauer, dem ein benachbarter Ritter seinen Grund verwüstet [**], und im Grunde ist es noch die alte Schlange, welche den Menschen verleitet, um ihn des Himmels zu berauben.
In Brawe's »Brutus« tritt ein zweites Motiv hinzu, das sich gleichfalls verfolgen und in eine Reihe mit Kindermord und Brudermord stellen läßt: der Vatermord. Angeregt scheint Brawe zu seinem Stücke durch einen Hinweis auf den Stoff, der sich in Nicolai's Abhandlung vom Trauerspiele bei Gelegenheit der ersten Preisausschreibung findet, beeinflußt durch einen unausgeführten Plan Lessings, den »Kleonnis«, ferner durch Voltaire's »Mahomet«, durch Youngs »The Revenge« und endlich durch Addisons »Cato«. Der Nachweis in Sauers Buche ist vollkommen überzeugend. Aus dem letzten Drama sind ganze Stellen übersetzt, viele Anklänge an das Original in Inhalt und Form finden sich. Die Form, die Sprache weicht jedoch von der des »Freigeist« in vielen Punkten ab. [***] Dies brachte der Vers mit sich, den Brawe unter directem Einflusse und in derselben Weise wie Lessing in »Kleonnis« verwendet. Sauer beweist in seinem dritten Anhange (S. 128 bis 145), der ein Theil eines größeren Aufsatzes ist, mit Evidenz, daß der »Kleonnis« in den Jahren 1756–1758, also in der Zeit der Leipziger Abendgesellschaften, entstand; der »Kleonnis« nun zeigt eine Beschränkung des fünffüßigen Jambus auf stumpfen Ausgang, welche Lessing bereits 1759 in dem Fragmente »Fatime« fallen ließ. Dieselbe kehrt jedoch nicht nur bei Brawe wieder, sondern in einer ganzen Reihe von Dichtungen, welche aus Lessings engerem Freundeskreise hervorgingen; Sauer hat daher ein Recht, dies auf Lessings Einfluß zurückzuführen, dem sich seine Freunde Kleist, Gleim, Weisse und Brawe und nach ihnen Zachariae und Bürger fügten. Hier haben wir bereits Ein Stück von Lessings Schule. Keiner von allen Freunden steht jedoch der lessingschen Form so nahe wie Brawe. Die Cäsur, das Enjambement, der Periodenbau, kurz die meisten Freiheiten finden sich bei ihm wie bei Lessing. Alle Punkte, die noch im »Nathan« für Lessings Hendekasyllaben charakteristisch sind, lassen sich auch bei Brawe nachweisen. Das deutsche Publicum lernte daher Lessings fünffüßigen Jambus zuerst aus einem Werke seines Schülers kennen, der Meister zeigte ihn bei Lebzeiten nur in seinem »Nathan«.
Es ist merkwürdig, wie schwer der Blankvers, der uns jetzt so geläufig ist, Eingang fand. Der »Brutus« wurde von dem Wiener Publicum, dessen ästhetische Bildung Sonnenfels übernommen hatte, abgelehnt; die Hälfte der Zuschauer konnte den Vers mit dem Buche in der Hand nicht verstehen. Und so wurden die Hoffnungen, welche Sonnenfels an die Aufführung geknüpft und in einem eigenen Schriftchen ausgesprochen hatte, gar bald vernichtet. Ein zweites Mal wurde dem Wiener Publicum der »Brutus« nicht dargestellt und im übrigen Deutschland erschien er gar nicht auf den Brettern. Interessant ist es aber, daß das Wiener Burgtheater seine Laufbahn mit einem Versuche begann, der das spätere classische Drama wenigstens in der Form vorbildete, und sich darin den Tendenzen Lessings fügte.
Wir sind durch Brawe's »Brutus« schon recht weit in das Thema hineingerathen, das Sauer neben seinem eigentlichen Hauptgegenstande behandelt: Lessings Einfluß; das vierte Capitel, welches Sauer »Die literarischen Wirkungen der Miß Sara Sampson« nannte, ist ganz dieser Betrachtung gewidmet.
Sauer verfolgt mit diesem Abschnitte seines Buches einen höchst fruchtbaren Gedanken, und ich hoffe, daß seine Methode bald Nachahmer finden wird. Wir sehen ein Stück literarischer Vererbung mit an; wir gewinnen Einblick in einen Proceß, der zu den interessantesten Problemen der Literaturgeschichte gehört. Aehnlich wie Darwin die Vererbung darlegte und als Factor in der Artenbildung hinstellte, könnte man sie in der Literatur verfolgen. Wir sehen stehende Figuren werden, und dadurch können wir Aufschlüsse über Entstehung der Poesie und weiterhin der Sprache gewinnen, die ungeahnt sind.
So weit treibt es Sauer natürlich nicht. Er geht vom einzelnen Stücke aus, indem er (S. 81–91) nicht weniger als 17 Stücke dem Inhalte nach kurz charakterisirt, dann einzelne Typen verfolgt. Man gewinnt dadurch rasch einen Ueberblick. Es sei mir gestattet, auch auf dies Capitel näher einzugehen, um einen Begriff von Sauers Untersuchung und zugleich kleine Nachträge zu geben; Sauer konnte leider nicht aller einschlägigen Dramen habhaft werden; da die meisten schwer zu erlangen sind.
Von der ganz richtigen Beobachtung ausgehend, daß die Nachahmungen selbst in dem Namen Abhängigkeit vom Originale verrathen, verfolgt Sauer einige derselben; Marwood und Waitwell wurden in dem Drama »Lucie Woodwil« von Pfeil zu Southwell und Woodwil; im »Renegaten« von Breithaupt heißt der Vertraute Welwood und in »Miß Fanny« von Brandes nur Well. Auch ein Breitwell läßt sich nachweisen. Einer Gruppe gehören an: Granville im »Freigeist«, Grandlove im »Renegaten«, und Greville in »Miß Jenny« (von unbekanntem Verfasser); verwandt sind Grandfeld und Blackville im »Carl von Drontheim« von Baumgarten. Clerdon im »Freigeist« erschein als Clarendon in »Eduard und Cäcilie«, ferner als Clermond in Weidmanns »Schule der Freigeister« und in einem von Sauer nicht benützten Trauerspiele »Oronooko« [*] als Klermont. Das letztere Drama von unbekanntem Verfasser bietet eine Mallfort und eine Weldon.
Das bürgerliche Trauerspiel kam von England nach Deutschland, nach England verlegt man darum seine Handlung, die Träger desselben sind Engländer, selbst wenn der Schauplatz etwa eine Insel wie in »Miß Fanny« oder im »Oronooko« und in einer Alexandriner-Tragödie »Nomares« ist. [**]
Entfernung und Nachreisen zu einem bestimmten Zwecke finden wir in einer großen Reihe von Dramen. In Bretzners »Lüderlichem« [***] hat sich Karl Wild dem ausschweifendsten Lebenswandel hingegeben, sein Freund Frank reist ihm nach, um ihn zu retten. In dem Trauerspiele »Oronooko« mußte Blandfort seinem Onkel nach einer englischen Colonie bei America folgen; seine Geliebte Charlotte Weldon reist ihm wie Weisse's Amalia als Mann verkleidet nach, um ihn zu prüfen. Im »Nomares« verließ Lady Kentley mit ihrem Vater England und wird auf eine Insel verschlagen; ihr Bräutigam Syllmont sucht sie vier Jahre lang und gelangt durch Zufall zu ihr. Eduard Werner in F. L. Schmidts Schauspiel »Unglück prüft Tugend« [†] ist wegen einer Unvorsichtigkeit nach America geflohen, sein Vater folgt ihm nach. Und diesen Typus bieten noch andere Werke dar. Auch Goethe's »Stella« läßt den Einfluß der »Miß Sara« nicht verkennen, obwohl Sauer nicht darauf eingeht.
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Aus Lessings Schule.
Joachim Wilhelm v. Brawe, der Schüler Lessings. Von August Sauer. Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker. XXX. Heft. Straßburg. Karl J. Trübner. London, Trübner u. Comp., 1878.
Von Dr. Richard Maria Werner.
III. [*]
In den meisten Dramen endet ein Mord die Verwicklung; nur wenige haben glücklichen Ausgang. Karl Wild im »Lüderlichen« erschießt sich, Blandfort und Charlotte dagegen werden vereinigt, während in demselben Drama »Oronooko« der gefangene Negerprinz, seine geraubte Gattin Imoinda zwar findet, aber selbst tödtet, um ihre Unschuld zu retten – wie man sieht, sind hier Miß Sara Sampson und Emilia Galotti in Eins geflossen.
Wie die »Namen und Stoffe«, zeigen auch die »Charaktere« in den Dramen Verwandtschaft unter einander und beweisen ihre Abhängigkeit von Lessings »Sara«. »Ein schwankender, leicht beweglicher Liebhaber, eine wenig hervortretende, meist passive Frauengestalt, ein teuflischer Intrigant, ein versöhnender Vater oder Freund und ein tugendhafter, salbungsvoller Vertrauter; die ganze Stufenleiter vom Edelsten bis zum Schlechtesten kehrt in fast allen einschlägigen Stücken wieder.« So bezeichnet Sauer das Verhältniß richtig und erinnert dadurch unwillkürlich an die Vorschrift, welche Gellert für die Komödie aufsteckt [**] und an jenes Scherzrecept [***], das für die Brauung eines Trauerspieles folgende Mixtur verordnet: »Nimm einen Helden und einen Schurken; belade den Einen mit allen Tugenden und den Anderen mit allen Lastern, welche jemals gewesen sind, und sein können; schüttle sie weidlich zusammen, so daß bald der Eine, bald der Andere oben kommt; thue ein paar Dutzend O!, Ach! und Ha!, verschiedene Ohnmachten, Sterbefälle und Mordthaten hinzu, lasse dieses bis zu fünf Handlungen kochen; alsdann setze es drei Tage zum Abkühlen hin und hierauf bringe es auf die Schaubühne.«
Der Liebhaber ist meist rasch in Flammen gesetzt, schwankt entweder wie Freemann [†] in Weisse's »Amalia« oder Karl Southwell in Pfeils »Woodvil« zwischen zwei weiblichen Wesen, oder wie Clerdon im »Freigeist« und Zapor im »Renegaten« zwischen Glauben und Unglauben, oder aber wie die meisten von ihnen zwischen guten Vorsätzen und bösen Handlungen unentschieden auf und ab. In diesem Falle erscheint wie im »Freigeist« gewöhnlich der Vertreter des guten Princips und bewirkt eine momentane Besserung, die sich in einem Monologe ausspricht; dann erscheint der Verführer und spottet alle »Kindereien« hinweg. Diesen Aufbau wies der »Freigeist« auf, wir finden ihn wieder in Weidmanns »Johann Faust«, in Bretzners tragischem Gemälde »Der Lüderliche«, in welchem Karl Wild zwischen Frank und den Verführer Blond gestellt ist. Auch in F. L. Schmidts Schauspiel »Unglück prüft Tugend« ist Blunt solchen Meinungsänderungen ausgesetzt.
Auch die Marwood hat eine große Nachkommenschaft, die immer ungeheuerlicher wird und schließlich den Teufel in höchsteigener Person mit einschließt. [*] Die Wittwe Mellfort im »Oronooko« ist wie die Marwood verlassen; sie hat sich nämlich in die als Mann verkleidete Charlotte Weldon verliebt, die sich als Weib entpuppt und Blandfort heiratet; dadurch wird die Mellfort empört und sucht sich zu rächen; dies wird aber zum Schlusse verhindert und sie giebt sich selbst den Tod. Und so sind sie alle, alle.
Die Intriganten haben ihre Vertrauten, einen Bedienten oder Schreiber, ein Kammermädchen oder dergleichen. Gewöhnlich überkommt sie die Reue über die Schlechtigkeiten, die sie in Gemeinsamkeit mit ihren Herren ausführten, und sie warnen oder retten. So auch bei Schmidt (»Unglück prüft Tugend«) des Grafen Kammerdiener Hellmann, der alles in Ordnung bringt; bei Bretzner (»Der Lüderliche«) ist Wilds alter Begleiter Friedrich ein Nachkomme des salbungsvollen Waitwell, der auch nicht gestorben, sondern in jedem bürgerlichen Trauerspiele neu aufgelebt.
Aber nicht nur die Charaktere vererben sich, selbst Situationen werden von den Dichtern sclavisch nachgebildet (S. 102 bis 110.) Einige Scenen der Sampson scheinen sich besonderer Beliebtheit erfreut zu haben, so Mellefonts Monolog (I, 3) und seine Unterredung mit Miß Sara (I, 7.) Eine große Rolle in den hiehergehörigen Dramen spielen prophetische Träume. Sie beweisen große Ideenlosigkeit der Verfasser, fast durchgängig sind sie nach derselben Schablone erfunden. In Schmidts »Unglück prüft Tugend« erwacht der verführte Sohn Blunt, gequält von einem schrecklichen Traume: (I, 2) sein Vater war ihm erschienen, er hatte seine Stimme gehört wie Miß Sara. Ebenso ist es im »Freigeist«, im »Faust«, in »Miß Jenny«, in »Eduard und Cäcilie« etc. Wo der Traum nicht erzählt wird, heißt es doch wenigstens wie in »Karl v. Drontheim« oder im »Lüderlichen« (I, 10): »Nun wahrhaftig, entweder hast du schlimme Träume gehabt, oder sie haben dir die Casse gesprengt.«
Edle Sterbende lassen sich nach ihrer Verwundung mit Vorliebe nochmals auf die Bühne bringen, um zu verzeihen und – zu sterben. Die letzten Worte, die sie sprechen, sind sehr ähnlich. Sauer führt unter Anderem an: Granville im »Freigeist«: Unaussprechliche Wollust ergießt sich durch meine Seele. Große, – ein nahes Glück weissagende Empfindungen bemeistern sich meiner; mein entzücktes Ohr hört die Harmonien der Unsterblichen! ... O träufle Trost auf ihn (Clerdon) herab, du, zu dem sich mein Geist voll Ungeduld aufschwingt, und auch mir –
Grandlove im »Renegaten«:
... Die Welt zerfließt vor meinen Blicken
Tief hin ins Leere! – Gott! welch' nie gefühlt Entzücken
Strömt durch mein Herz! – O Glück! Wie selig ist der Tod! –
Ich höre Harmonien. – Mein Mittler und mein Gott,
Nimm meine Seele auf!
In der »Miß Sara« starb Mellefont mit den Worten: »Was für fremde Empfindungen ergreifen mich! – Gnade! o Schöpfer, Gnade!« Sara mit den Worten: »Mein Auge bricht. – Dies war der letzte Seufzer! ... Der Augenblick ist da! Mellefont – mein Vater!« – Karl im »Drontheim« mit folgenden Ausrufen: »Ach! – Gott! – Welche ungewöhnliche Empfindung – – Nun fühle ich es – mein Lebensende ist nahe – Der Nebel des Todes verfinstert mein sterbendes Auge. – Der Himmel eröffnet sich meiner nun bald – entkerkerten Seele – Brich, brechende Hülle – – Schon eile ich den Armen meines Erlösers entgegen.« Damit vergleiche man die Schlußscene des »Nomares« (S. 84):
... Doch wohin entflieht des Tages helles Licht? –
Das Blut – Ich werde schwach; – Mein trübes Auge bricht. –
Umarmt mich! – Lebet wohl! – Ich fühl' es, meine Seele
Entreißt dem Tande sich, flieht aus der finstern Höhle
Des Körpers! – Sei gegrüßt, du süßer Friedensbot'! –
Ja, ja, du nahest dich, – o Tod! – willkomm'ner Tod! –
Du bist mir – Ach! – –
Im »Oronooko« (V, 4. S. 328): »Nun sterb' ich zufrieden! – Ich fühl's, meine Kräfte neigen sich zum Grabe. – Meine unglückliche Laufbahn ist vollendet! – Imoinda, meine Geliebte, ruft mich in ihre Arme – Eboan wartet meiner! ... Lebt wohl! – Imoinda – Freiheit – Ach –«
Wenn das Stück zu Ende ist, hängt der Dichter sein »fabula docet« an, was er freilich von Lessing nicht gelernt hat. »Mein trauriges Beyspiel lehre euch. ... Seyd gerecht – menschlich!« apostrophirt der sterbende Oronooko den Gouverneur; »laßt mein schreckliches Ende euch ein Beispiel seyn, und weiht mir eine Thräne des Mitleids!« der sterbende Lüderliche die »hochzuehrenden Anwesenden« [*].
So leben und sterben die Helden der bürgerlichen Trauerspiele. Den wenigsten ist ein natürlicher Tod gegönnt. Mord, sei es von eigener, sei es von fremder Hand, macht ihrem Leben ein frühes Ende. Besonders scheinen die Väter vor ihren Söhnen nicht sicher gewesen zu sein. Sauer geht von Lillo's einst so beliebtem »Kaufmanne von London«, dem Muster Lessings, und von Voltaire's »Mahomet« aus und verfolgt das Motiv des Vatermordes bis zu Schillers »Räubern«. Als Nachtrag zu seinen Belegen für die Häufigkeit dieser Erscheinung und zugleich als Muster der Schicksalstragödien sei mir gestattet, das Trauerspiel »Nomares« aus dem Jahre 1768 näher zu charakterisiren; es enthält fast nur das Gerippe, nur ein Schema zu einem Drama, wie es zu jener Zeit Mode war.
Lady Kentley hat mir ihrem Vater England verlassen; ein Schiffbruch, der ihren Vater tödtet, wirft sie auf die von Nomares beherrschte Insel. Nomares verliebt sich in sie und verfolgt sie mit Liebesanträgen. Ihr Bräutigam Lord Syllmont ist nachgereist, sie zu suchen; auch ihn verschlägt Schiffbruch auf die Insel. Zufällig findet er seine Braut, die ihn über ihren Zustand unterrichtet. Nomares droht den zehn Christen, welche sich mit Lady Kentley retteten mit dem Tode, wenn sie ihm nicht angehören wolle. Sie weigert sich, Lord Syllmont tröstet sie und kämpft mit Nomares, der auf ihn eindringt. Nomares fällt, wird auf die Bühne gebracht, läßt Syllmont ergreifen, doch als Lady Kentley zufällig den Namen desselben nennt, befiehlt er, ihn freizulassen, und giebt sich als Vater zu erkennen. Er war aus England geflohen, weil er seinen Freund getödtet zu haben glaubte. Derselbe war nur verwundet gewesen, Lady Kentley ist seine Tochter. Syllmont wird rasend über seine That
»Wie? blitzt der Himmel nicht auf mich? Ruht seine Rache? –
Noch leb' ich. – O was hat mein Arm, mein Schwerdt vollbracht!
O schwarze Lasterthat! o Abscheu! – Ew'ge Nacht,
Verschlingest du mich nicht? Kann deine Marter schlafen,
In mir Unseligen den Vatermord zu strafen? – ...
O wende diesen Blick
Voll süßer Vaterhuld, o wend ihn doch zurück!
Ja diese Zärtlichkeit vergrößert meine Leiden. –
Die ganze Hölle tobt in meinen Eingeweiden!«
Sein Vater tröstet ihn wie Granville den Clerdon, Grandlove den Renegaten:
Ja, fasse neuen Muth und stille deine Thränen,
Bann' der Verzweiflung Schmerz hinweg aus deiner Brust,
Dein Vater bittet dich!
Nomares nimmt den Tod hin als Sühne für seine Thaten, daß er als Christ die Christen verfolgt, fremden Göttern, wenn auch nur scheinbar, gehuldigt und seinen Freund Kentley verwundet. Er übergiebt die Herrschaft seinem getreuen Zelamor, ordnet die Befreiung der Gefangenen an und stirbt. Syllmont mit seiner Braut verläßt das Land, wo er den Vater sterben sah [**].
<Seite 938:>
Vom Jahre 1755 bis 1772 ist die »Miß Sara« ein Gegenstand der Nachahmung, und auch weiter hinaus konnten wir einige Motive verfolgen, die auf sie zurückgehen. Im Jahre 1772 erschien die »Emilia«, 1773 der »Götz«; durch beide wurden die Dichter angeregt, die sich nun in zwei große Schulen theilen: in Lessings Schule und in Goethe's Schule. Wie zwei Ströme fluten neben einander her die Virginia-Dramen [*] und die Geniestücke, die letzteren alles Maß überschreitend. Beide Ströme einigt Schiller in seinen Jugendwerken, bis sich ihm und Goethe der See eines neuen Drama's herausklärt, der von nun ab mustergültig ist.
<Seite [929]:>
[*]
Auch in Grillparzers »Der Traum ein Leben«, das bekanntlich auf Voltaire's Erzählung » Rouge et noir« zurückgeht, hat man und nicht bloß in dem Namen »Zanga« eine Erinnerung an das Drama des Engländers anzunehmen.
<Seite 930:>
[*]
Wien bei Joh. Thomas Edl. v. Trattnern, 1772.
[**]
Im Kalendarium dieses Almanachs sind die deutschen Dichter nach damals beliebter Weise statt der Tagesheiligen gesetzt, dabei ist v. Brawe auf den 8. des Lenzmonats in die Gesellschaft von Cronegk, Kleist, Rost, Unzer und Gellert gekommen.
<Seite [933]:>
[*]
Siehe »Wiener Abendpost« vom 9. October d. J.
[*]
»Die dankbare Tochter. Ein Originaldrama in Prosa von einem Aufzuge. Wien, gedruckt bey Johann Th. Edl. v. Trattnern 1773. Der Verfasser ist Paul Weidmann.« (Vgl. Goedeke. Gedr. 1070.) Auch hier entwickelt der Intrigant »Bauernplag« seinen Racheplan, wird aber an der vollen Ausführung durch das Dazwischentreten seines Gutsherrn gehindert.
[**]
Ludwig Philipp Hahns »Robert von Hohenecken«, 1778.
[***]
In dem schon citirten »Almanach für Dichter und schöne Geister« heißt es vom »Brutus«: »Hohe, echt römische Heldengesinnungen herrschen im »Brutus«, und die Ausdrücke sind kühn und originell. Das Bilderreiche und Sententiöse kann man mit den Jahren des Verfassers entschuldigen, und wir haben nicht Ursache, zu strenge mit jungen Genies zu seyn, die wir ins Leben zurückwünschen sollten, da wir gegen Nichtgenies oft nur zu nachsehend sind.«
[*]
Ich kenne den Abdruck in der »Augsburger deutschen Schaubühne«. 3. Band 1789, S. 201–330.
[**]
Enthalten in: »Dramatische und andere Gedichte von ***.« Zürich bei Füeßlin und Comp. 1768. S. 59–86.
[***]
Ein tragisches Gemälde 1789. Nach seinem berühmten Romane: »Das Leben eines Lüderlichen.« 1786 f.
[†]
»Grätzer Schaubühne«. 7. Bd. 1796.
<Seite [937]:>
[*]
Siehe »Wiener Abendpost« vom 9. und 10. October d. J.
[**]
Im 26. Briefe der Sammlung, welche er als: »Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem gutem Geschmacke in Briefen« veröffentlichte. 2. Aufl. (1756), S. 154–165.
[***]
»Lausitzisches Magazin.« 20. Stück. 31. October 1776, S. 319.
[†]
Von J. E. Jester giebt es ein Stück »Freemann« oder »Wie wird das ablaufen?« Grätzer Schaubühne, 2. Jg., 10. Bd., 1797. Der Verfasser scheint aus Möllers »Graf Walltron« gelernt zu haben.
[*]
In Weidmanns Faust, wo Mephistopheles Züge der Marwood trägt. (Sauer S. 100.)
[*]
Man vgl. den Brief Klotzens über die Miß Sara Sampson an Briegleb, Göttingen, 29. December 1763.
[**]
In einem kleinen Lustspiele von Paul Weidmann: »Die Ueberraschung« (Wien 1771) wird der Vatermord nur durch eine plötzliche Besinnung vermieden. Sigmunds Vater kehrt nach langjähriger Abwesenheit unter dem Namen Renfeld zurück, erwirbt Sigmunds Freundschaft und Vertrauen. Sein Sohn theilt ihm die Liebe zu Sophie mit und bittet ihn, die Heirat durch Fürsprache bei Blümond, dem Vater Sophiens, zu fördern. Renfeld wirbt für seinen »Sohn«, daraus entsteht ein Mißverständnis. Sigmund fühlt sich hintergangen, wird empört und Renfeld gegenüber immer hitziger, man fürchtet das Aergste, da sagt Sigmund: »Ich muß gehen, meine Hitze würde mich sonst zu weit führen. Ihr Alter hält mich zurück ... und ein ich weiß nicht ... was?« Das Ende kann sich Jeder denken, »sie kriegen sich«.
<Seite 938:>
[*]
Auf die »Emilie« wird in den Nachahmungen direct hingedeutet, doch nicht bloß in dem von Sauer (S. 92) angeführten Drama: »Die Gräfin von Wallberg«. Auch im »Lüderlichen« heißt es (V. 5, S. 176): »Denn Perlen bedeuten Thränen, sagte einst Emilia.«
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