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Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. Vierzehntes Stück. In: Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Band 9. Hg. von Karl Lachmann. Dritte, aufs neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. Stuttgart: Göschen 1893. S. 239-243.

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Vierzehntes Stück.

Den 16ten Junius, 1767.

Das bürgerliche Trauerspiel hat an dem französischen Kunstrichter, welcher die Sara seiner Nation bekannt gemacht, [1] einen sehr gründlichen Vertheidiger gefunden. Die Franzosen billigen sonst selten etwas, wovon sie kein Muster unter sich selbst haben.

Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stücke Pomp und Majestät geben; aber zur Rührung tragen sie nichts bey. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß natürlicher Weise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen. Macht ihr Stand schon öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie darum nicht interessanter. Immerhin mögen ganze Völker darein verwickelt werden; unsere Sympathie erfodert einen einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen.

"Man thut dem menschlichen Herze unrecht", sagt auch Marmontel, "man verkennet die Natur, wenn man glaubt, daß sie Titel bedürfe, <Seite 240:> uns zu bewegen und zu rühren. Die geheiligten Namen des Freundes, des Vaters, des Geliebten, des Gatten, des Sohnes, der Mutter, des Menschen überhaupt: diese sind pathetischer, als alles; diese behaupten ihre Rechte immer und ewig. Was liegt daran, welches der Rang, der Geschlechtsname, die Geburt des Unglücklichen ist, den seine Gefälligkeit gegen unwürdige Freunde, und das verführerische Beyspiel, ins Spiel verstricket, der seinen Wohlstand und seine Ehre darüber zu Grunde gerichtet, und nun im Gefängnisse seufzet, von Scham und Reue zerrissen? Wenn man fragt, wer er ist; so antworte ich: er war ein ehrlicher Mann, und zu seiner Marter ist er Gemahl und Vater; seine Gattinn, die er liebt und von der er geliebt wird, schmachtet in der äußersten Bedürfniß, und kann ihren Kindern, welche Brod verlangen, nichts als Thränen geben. Man zeige mir in der Geschichte der Helden eine rührendere, moralischere, mit einem Worte, tragischere Situation! Und wenn sich endlich dieser Unglückliche vergiftet; wenn er, nachdem er sich vergiftet, erfährt, daß der Himmel ihn noch retten wollen: was fehlet diesem schmerzlichen und fürchterlichen Augenblicke, wo sich zu den Schrecknissen des Todes marternde Vorstellungen, wie glücklich er habe leben können, gesellen; was fehlt ihm, frage ich, um der Tragödie würdig zu seyn? Das Wunderbare, wird man antworten. Wie? findet sich denn nicht dieses Wunderbare genugsam in dem plötzlichen Uebergange von der Ehre zur Schande, von der Unschuld zum Verbrechen, von der süßesten Ruhe zur Verzweiflung; kurz, in dem äußersten Unglücke, in das eine bloße Schwachheit gestürzet?"

Man lasse aber diese Betrachtungen den Franzosen, von ihren Diderots und Marmontels, noch so eingeschärft werden: es scheint doch nicht, daß das bürgerliche Trauerspiel darum bey ihnen besonders in Schwang kommen werde. Die Nation ist zu eitel, ist in Titel und andere äußerliche Vorzüge zu verliebt; bis auf den gemeinsten Mann, will alles mit Vornehmern umgehen; und Gesellschaft mit seines gleichen, ist so viel als schlechte Gesellschaft. Zwar ein glückliches Genie vermag viel über sein Volk; die Natur hat nirgends ihre Rechte aufgegeben, und sie erwartet vielleicht auch dort nur den Dichter, der sie in aller ihrer Wahrheit und Stärke zu zeigen verstehet. Der Versuch, den ein Ungenannter in einem Stücke gemacht hat, welches er das Gemählde <Seite 241:> der Dürftigkeit nennet, hat schon große Schönheiten; und bis die Franzosen daran Geschmack gewinnen, hätten wir es für unser Theater adoptiren sollen.

Was der erstgedachte Kunstrichter an der deutschen Sara aussetzet, ist zum Theil nicht ohne Grund. Ich glaube aber doch, der Verfasser wird lieber seine Fehler behalten, als sich der vielleicht unglücklichen Mühe einer gänzlichen Umarbeitung unterziehen wollen. Er erinnert sich, was Voltaire bey einer ähnlichen Gelegenheit sagte: "Man kann nicht immer alles ausführen, was uns unsere Freunde rathen. Es giebt auch nothwendige Fehler. Einem Bucklichten, den man von seinem Buckel heilen wollte, müßte man das Leben nehmen. Mein Kind ist bucklicht; aber es befindet sich sonst ganz gut."

Den zwölften Abend (Donnerstags, den 7ten May,) ward der Spieler, vom Regnard, aufgeführet.

Dieses Stück ist ohne Zweifel das beste, was Regnard gemacht hat; aber Riviere du Freny, der bald darauf gleichfalls einen Spieler auf die Bühne brachte, nahm ihn wegen der Erfindung in Anspruch. Er beklagte sich, daß ihm Regnard die Anlage und verschiedene Scenen gestohlen habe; Regnard schob die Beschuldigung zurück, und itzt wissen wir von diesem Streite nur so viel mit Zuverläßigkeit, daß einer von beiden der Plagiarius gewesen. Wenn es Regnard war, so müssen wir es ihm wohl noch dazu danken, daß er sich überwinden konnte, die Vertraulichkeit seines Freundes zu mißbrauchen; er bemächtigte sich, blos zu unserm Besten, der Materialien, von denen er voraus sahe, daß sie verhunzt werden würden. Wir hätten nur einen sehr elenden Spieler, wenn er gewissenhafter gewesen wäre. Doch hätte er die That eingestehen, und dem armen Du Freny einen Theil der damit erworbnen Ehre lassen müssen.

Den dreyzehnten Abend (Freytags, den 8ten May,) ward der verheyrathete Philosoph wiederholet; und den Beschluß machte, der Liebhaber als Schriftsteller und Bedienter.

Der Verfasser dieses kleinen artigen Stücks heißt Cerou; er studierte die Rechte, als er es im Jahre 1740 den Italienern in Paris zu spielen gab. Es fällt ungemein wohl aus.

Den vierzehnten Abend (Montags, den 11ten May) wurden die coquette Mutter vom Quinault, und der Advocat Patelin aufgeführt.

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Jene wird von den Kennern unter die besten Stücke gerechnet, die sich auf dem französischen Theater aus dem vorigen Jahrhunderte erhalten haben. Es ist wirklich viel gutes Komisches darinn, dessen sich Moliere nicht hätte schämen dürfen. Aber der fünfte Akt und die ganze Auflösung hätte weit besser seyn können; der alte Sklave, dessen in den vorhergehenden Akten gedacht wird, kömmt nicht zum Vorscheine; das Stück schließt mit einer kalten Erzehlung, nachdem wir auf eine theatralische Handlung vorbereitet worden. Sonst ist es in der Geschichte des französischen Theaters deswegen mit merkwürdig, weil der lächerliche Marquis darinn der erste von seiner Art ist. Die coquette Mutter ist auch sein eigentlichster Titel nicht, und Quinault hätte es immer bey dem zweyten, die veruneinigten Verliebten, können bewenden lassen.

Der Advocat Patelin ist eigentlich ein altes Possenspiel aus dem funfzehnten Jahrhunderte, das zu seiner Zeit ausserordentlichen Beyfall fand. Es verdiente ihn auch, wegen der ungemeinen Lustigkeit, und des guten Komischen, das aus der Handlung selbst und aus der Situation der Personen entspringet, und nicht auf bloßen Einfällen beruhet. Bruegs gab ihm eine neue Sprache und brachte es in die Form, in welcher es gegenwärtig aufgeführet wird. Hr. Eckhof spielt den Patelin ganz vortrefflich.

Den funfzehnten Abend (Dienstags, den 12ten May,) ward Leßings Freygeist vorgestellt.

Man kennet ihn hier unter dem Titel des beschämten Freygeistes, weil man ihn von dem Trauerspiele des Hrn. von Brave, das eben diese Aufschrift führet, unterscheiden wollen. Eigentlich kann man wohl nicht sagen, daß derjenige beschämt wird, welcher sich bessert. Adrast ist auch nicht einzig und allein der Freygeist; sondern es nehmen mehrere Personen an diesem Charakter Theil. Die eitle unbesonnene Henriette, der für Wahrheit und Irrthum gleichgültige Lisidor, der spitzbübische Johann, sind alles Arten von Freygeistern, die zusammen den Titel des Stücks erfüllen müssen. Doch was liegt an dem Titel? Genug, daß die Vorstellung alles Beyfalls würdig war. Die Rollen sind ohne Ausnahme wohl besetzt; und besonders spielt Herr Böck den Theophan mit alle dem freundlichen Anstande, den dieser Charakter erfordert, um dem endlichen Unwillen über die Hartnäckigkeit, mit der <Seite 243:> ihn Adrast verkennet, und auf dem die ganze Katastrophe beruhet, dagegen abstechen zu lassen.

Den Beschluß dieses Abends machte das Schäferspiel des Hrn. Pfeffels, der Schatz.

Dieser Dichter hat sich, außer diesem kleinen Stücke, noch durch ein anders, der Eremit, nicht unrühmlich bekannt gemacht. In den Schatz hat er mehr Interesse zu legen gesucht, als gemeiniglich unsere Schäferspiele zu haben pflegen, deren ganzer Inhalt tändelnde Liebe ist. Sein Ausdruck ist nur öfters ein wenig zu gesucht und kostbar, wodurch die ohnedem schon allzu verfeinerten Empfindungen ein höchst studiertes Ansehen bekommen, und zu nichts als frostigen Spielwerken des Witzes werden. Dieses gilt besonders von seinem Eremiten, welches ein kleines Trauerspiel seyn soll, das man, anstatt der allzulustigen Nachspiele, auf rührende Stücke könnte folgen lassen. Die Absicht ist recht gut; aber wir wollen vom Weinen doch noch lieber zum Lachen, als zum Gähnen übergehen.


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[1] Journal Etranger, Decembre 1761.


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