Brawe Ressourcen Logo | unten |

Minor, Jakob: Einleitung [zu Joachim Wilhelm v. Brawe: Brutus]. In: Lessings Jugendfreunde. Berlin, Stuttgart: Spemann [1883]. S. 203-209.

<Seite 203:>

Einleitung.

Brawe nimmt in der Geschichte des deutschen Dramas fast dieselbe Stellung ein wie Weiße: aber mit größerer Entschiedenheit und aus freier Wahl. Ihn hat nicht der blinde Zufall an seinen Platz geschoben: sondern Lessing auf seinen Posten berufen. Er vermittelt nicht schwächlich zwischen dem Zeitgeschmack und einer freieren Richtung, sondern er knüpft mit Bewußtsein und Absicht an das vorhandene an, um der Zukunft die Bahn zu brechen. Viel energischer als Weiße leitet Brawe von den Nachahmern der Franzosen zu den Nachahmern der Engländer, von den mit französischem Kleister zusammengeleimten Haupt- und Staatsaktionen durch das bürgerliche Trauerspiel zur historischen Tragödie; vom Alexandriner durch die Prosa zum fünffüßigen Jambus; von Gottsched, mit dem er in Addison dieselbe Quelle hat, zu Lessing. Sein gleichfalls kurzlebiger und begabter Vorgänger Johann Elias Schlegel ist ihm in der Technik weit überlegen: aber als Kind der alten Schule, in welcher noch die frostigen Beherrscher der Leidenschaften, die altklugen Pedanten ihrer Empfindung dominierten, steht er an Feuer und Kraft ebensoweit hinter ihm zurück. Auch Cronegk, sein glücklicherer Nebenbuhler um die doctarum frontium hederae, steht noch mehr auf dem Standpunkte der Sentenzen und Anti- <Seite 204:> thesen, der Couplets und des Alexandriners, und wagt sich wie Schlegel höchstens in seinen letzten Entwürfen an den englischen Vers. In allen diesen Neuerungen ist J. W. Brawe der Schüler Lessings: das ist seine Stellung in der Dichtungsgeschichte und darnach hat ihn sein Biograph mit Recht benannt.

Mit Cronegk teilt Brawe scheinbar – aber auch nur scheinbar – dieselben Voraussetzungen des äußern Lebens. Beide stammen aus alten Adelsgeschlechtern, und auch Brawe gehört wenigstens von mütterlicher Seite dem fränkischen Stamme an. Aber während Cronegks Vorfahren ihre Kräfte im Felde geübt zu haben scheinen, standen die Väter Brawes seit Urzeiten als tüchtige Beamte in sächsischen Diensten. Als Sohn eines Vicekanzlers erblickte Joachim Wilhelm am 4. Februar 1738 im kleinen Herzogtum Sachsen-Weißenfels die Welt. Was deutsche Männer großgezogen hat und seinem Nebenbuhler in besonderem Maße zu teil geworden war: die liebende Fürsorge der Mutter blieb unserem Dichter versagt; er verlor sie in frühen Jahren. Um so wärmer und glühender tritt die Liebe zum Vater in seinen Dichtungen hervor: fast scheint es, als ob der volle Strom seiner Empfindung auch hier einen Damm zu brechen gehabt hätte, als ob hier ein elegischer Schatten aus dem Leben in die Dichtung fiele. Fünf Jahre nachdem Klopstock seine berühmte Abschiedsrede gehalten hatte, fand Brawe an der Schulpforte Aufnahme (1750) und erhielt eine zwar weniger glänzende, aber gediegenere und ernstere Vorbildung als Cronegk unter den Händen seiner Privatlehrer. Viel ernster als bei Cronegk macht sich in seinem Leben der Gedanke des frühen Todes geltend; das traurige Losungswort: am Geiste stark – am Leibe schwach! nahm er bei seinem Abgange versiegelt und verbrieft von der Schule mit auf die Akademie. Die Rechtsgelehrsamkeit zu suchen ging er nach Leipzig und brachte noch mehr, den Ruhm des erfolggekrönten Dramendichters heim, den er freilich mit frühem Tode bezahlte.

Brawe hat nicht wie Cronegk zu großen Reisen Gelegenheit gehabt: in seinem Leben wie in dem Weißes macht Leipzig Epoche. Als er anfangs 1755, zehn Jahre nach Weiße, dort ankam, hatten sich die litterarischen Verhältnisse allerdings geändert: Gottsched war ein toter Mann; die Blamage, der er sich bei Gelegenheit der Aufführung der Operette "der Teufel ist los" ausgesetzt hatte, machte ihm den Garaus. Man sprach von ihm nur noch in Schimpfwörtern, feierte ihn öffentlich wie bisher insgeheim als den großen Duns und regalierte ihn und seinen Schützling Schönaich, den großen und den kleinen Christof, sobald ihnen wieder der Kamm emporstieg, mit Satiren und Spottgedichten, an denen sich auch der junge Cronegk beteiligte. Bei Gottsched also war für unseren Ankömmling nichts mehr zu holen; er hielt sich, so lange sein dichterisches Talent der Nahrung entbehrte, an Gellerts Moral und die Philosophie des Crusius. Erst mit Lessing begann für ihn ein neues Leben, der als Dramatiker, Dramaturg und Kri- <Seite 205:> tiker damals (1757) bereits über die ersten Erfolge hinaus war und eine Partei für sich in der Litteratur bildete. Lessing hat auch Brawe für das Drama gewonnen, wie er zur selben Zeit Kleist zu seinem Seneca ermunterte. Aber während er seine eigenen Absichten und wechselnden Pläne vor diesem und selbst vor den Berliner Freunden geheimhielt – aus naheliegenden Gründen: weil er selbst mit seiner bürgerlichen "Virginia" konkurrieren und das Urteil der Preisrichter nicht bestechen wollte –, während er in Leipzig und Berlin als Faullenzer und Verderber seines Talentes galt: scheint der Jüngling Brawe der einzige gewesen zu sein, der in seine dichterische Werkstatt Einblick hatte und sich mitunter an einem der dort auf die Künstlerhand harrenden Marmorblöcke versuchen durfte. Auch in den geselligen Kreis heiterer Freude und anakreontischer Tändeleien, aus welchen schon vorher Lessings "Kleinigkeiten" und Weißes "scherzhafte Lieder" hervorgegangen waren, wurde Brawe eingeführt. Den Winter von 1757 auf 1758 fanden sich die Freunde in Kleists Hause zusammen, um dem Gotte der Freude, der Freundschaft und des Weines zu opfern. Die ernsteren Interessen vertrat hier weniger das Drama als die Philosophie: und wieder war es Brawe, mit dem sich Lessing einließ und den er mit seinen Crusius'schen Dogmen in Widerspruch zu verwickeln suchte. Den schönen Bund, der mit dem Heranreifen Brawes gewiß nur inniger geworden wäre, und die schönen Hoffnungen, welche Lessing in ihn setzte, unterbrach der allgewaltige Tod. Ende März 1758 reiste Brawe zum Besuch seines Vaters nach Dresden und starb am 7. April an einem hitzigen Fieber, noch ehe die Blattern zum Ausbruche kamen. Nicht ohne Grund werden wir Überanstrengung seiner schwachen physischen Kräfte als die erste Ursache seines Todes betrachten dürfen, und sicher ist hier anders als bei Cronegk eine beginnende Dichterlaufbahn im ersten Anlaufe unterbrochen worden.

* * *

Als Brawe bald nach zurückgelegtem zwanzigsten Lebensjahre starb, hatte er durch zwei fünfaktige Dramen die Hoffnungen seiner Freunde erregt. Sein bürgerliches Trauerspiel "der Freigeist" wurde von Lessing, ehe er selbst an die Bewerbung um den Nicolaischen Preis dachte, den Preisrichtern vor dem Cronegkschen "Codrus" empfohlen, hinter dem es später zurückstehen mußte. Sein "Brutus" war eines der ersten Dramen, welche dem fünffüßigen Jambus, dem Verse unseres klassischen Drama, die Bahn gebrochen haben. Beide Trauerspiele wurden, nachdem der Freigeist im Anhange zu den beiden ersten Bänden der Bibliothek der Wissenschaften zuerst gedruckt worden war, von Ramlers mehr hin- und her- als nachbessernder Hand noch 1768, zehn Jahre nach dem Tode ihres Verfassers, dem deutschen Publikum vorgelegt.

Brawe ist nicht ganz frei von den Einflüssen der französischen Tragödie und ihrer deutschen Nachfolger. Nicht nur die Einheiten werden <Seite 206:> sorgfältig beobachtet, sondern auch die langatmigen Reden und Ergießungen der Personen, welche in der Alexandrinertragödie mit der schweren Rüstung des Reimes beladen einherschreiten, kehren in Brawes Stücken in der Prosa und im Jambus oft seitenlang wieder. Die Bedienten und die Vertrauten, denen alles beigebracht wird, was der Zuschauer erfahren soll, spielen noch immer eine große Rolle: der erste Akt des "Freigeist" geht damit auf, daß die beiden Hauptpersonen ihren Bedienten das Geschehene und Vorhabende erzählen. Charakteristisch für die Gottschedsche Nachbildung des französischen Trauerspiels ist, daß die Handlung im besten Falle im dritten, oft auch erst im vierten Akte beginnt und alles andere Erzählung und Exposition ist: auch bei Brawe, besonders im "Freigeist", nimmt die Erzählung einen breiten Raum ein. Nach Art des französischen Trauerspiels sind alle Ensemblescenen gemieden: selbst wenn mehr Personen auf der Scene erscheinen, treten nur zwei oder drei in den Dialog. Mit der typischen Erzählung eines Traumes beginnt der "Freigeist" und "Brutus" geradeso wie Weißes "Richard": auch hier liegt das alte Gottschedsche Schema zu Grunde. Und wenn Brawe im "Brutus" nicht wie Shakespeare den historischen Stoff selbst zum reden zu bringen vermag, wenn er eine pathetische Handlung von allgemein menschlichem Charakter hineindichtet, so zeigt uns dies zwar auch noch, wie weit er mit der französischen Tragödie geht; aber zugleich den Punkt, an dem er sie verläßt. Es ist keine auf Grund der noble oder belle passion erbaute Episode, sondern ein Vorwurf von wirklich tragischer Kraft und Tiefe; das jenerzeit beliebte Motiv des Vatermordes in einer neuen effektvollen Wendung.

Viel mächtiger aber sind die Einflüsse, welche Brawe von der entgegengesetzten Seite, von Lessing und den Engländern, erfährt. Im "Freigeist" sind die Motive von Youngs Drama "the revenge" mit den Elementen und Voraussetzungen der "Miß Sara Sampson" vermischt und die französische Mode der Freigeisterei, des "unpöbelhaften" Denkens wie es Brawe nennt, hatte Lessing vorher in der Komödie behandelt. Young, der Dichtergenosse des von Lessing so oft empfohlenen Thomson, hat auch auf das zweite Drama Brawes mehr Einfluß gehabt als Voltaires Mahomet: aber Addisons Cato und besonders Lessings Entwurf zu einem Drama Kleonnis treten hier noch weiter hinzu. Selbständige Erfindung war nicht die Stärke des jungen Dichters, der darnach rang, bekannte und typische Motive innerlich zu beleben und künstlerisch zu gestalten. Auf die Geschichte des Brutus mag ihn eine Andeutung Nicolais in der Abhandlung über das Trauerspiel hingewiesen haben: aber solche stoische Charaktere waren in der Zeit des siebenjährigen Krieges überhaupt beliebt. Den Hauptcharakter und das Motiv seiner in den historischen Stoff hineingedichteten Verwicklung fand er von Wieland aus Bodmers Noachide anempfohlen. Und wie viel anderes haben ihm Lessing und die bezeichneten englischen und französischen Quellen, oft bis zum Wortlaute an die Hand gegeben!

<Seite 207:>

Auch unter einander stimmen die Stücke Brawes auffallend überein: die jugendliche Phantasie des Dichters ergeht sich gern in denselben Situationen. Dichterisch reicher ist ohne Zweifel, wer zweimal dasselbe verschieden als wer nach einander verschiedenes darstellen kann. Im "Freigeist" verleitet Henley seinen Nebenbuhler Clerdon zu Ausschweifungen, Verbrechen und Freigeisterei. Granvilla, dessen Schwester Clerdon liebt, sucht ihn zu retten. Aber Henley weiß Clerdon gegen Granvilla aufzureizen, daß er ihn im Zweikampf tötet. Clerdon zum Mörder des Freundes zu machen und dadurch auf Erden und im Jenseits zu vernichten war Henleys teuflischer Plan, den er dann auch triumphierend seinem Gegner enthüllt, worauf Clerdon erst den Verräter, dann sich selbst tötet. Ganz ähnlich ist das Motiv des "Brutus". Publius, ein Samniter und Feind des römischen Namens, hat den Sohn des Brutus (Marcius) gerettet, den der Vater bei Mutina für verloren hielt. Er zieht ihn im Hasse gegen Rom und Brutus auf; im Haine der Furien läßt er ihn den heiligen Eid schwören beide zu verderben und schickt ihn als scheinbaren Überläufer ins Lager der Römer. Aber der Jüngling wird von Brutus' Größe überwältigt, eine geheime Stimme zieht den Sohn zu dem Vater. Nur das Vorgeben seines vermeintlichen Vaters Publius, der sein Leben für den Kopf des Brutus verpfändet haben will, und die Scheu vor dem vermeintlichen Vatermord kann ihn bewegen von Brutus abzufallen und den Untergang des römischen Heeres herbeizuführen. Publius enthüllt auch hier, wie Henley im "Freigeist", dem Brutus seinen ganzen Racheplan. In der Schlacht treffen Brutus und Marcius auf einander und um seinem Sohne den Frevel des Vatermordes zu ersparen, stürzt sich Brutus in das eigene Schwert. Es war gewiß ein höchst tragisches Motiv, daß Marcius, während er auf der einen Seite mit größter Selbstüberwindung dem Vatermorde zu entgehen sucht, gerade dadurch auf der andern Seite demselben Verbrechen um so sicherer in die Arme fällt.

Das Motiv der ausgeklügelten grenzenlosen Rache ist dasselbe in beiden Stücken. Es ist wahr, daß Henley und Publius nur Teufel sind; aber wie geschickt weiß der Dichter seine Intriguanten zu motivieren! In beiden Stücken ist es ein Haß von Haus zu Haus, von Stamm zu Stamm, der die Gemüter entzündet. Henley sagt: "Unsere beiden Häuser sind stets teils durch die Bande der Verwandtschaft, teils durch die Nachbarschaft ihrer Güter und andere Umstände verknüpft gewesen, und eben diese genauen Verbindungen haben unaufhörlich eine geheime Eifersucht unter ihnen genährt." Henley verschwindet neben Clerdon, das steigert den ererbten Groll: "Überall verdunkelte er alle seine Freunde, man vergaß ihrer, oder kannte sie nur unter dem Charakter – seiner Freunde. Meine Eifersucht ward aufgebracht." Sie verdoppelt sich, als Clerdon bei verschiedenen Gelegenheiten in der Bewerbung um dieselben Bedienungen Hoffnungen erhielt, die man Henley versagte. "Überall mußten wir Neben- <Seite 208:> buhler sein und überall siegte er." Endlich streben beide nach der Gunst derselben Geliebten, welche Clerdon zu teil wird, während Henley der Verschmähte ist. Die Art der Rache, welche Henley ausklügelt, erinnert an Franz Moor: "Eben diese glänzenden Vorzüge, diese so gerühmten Tugenden, durch die er mir überlegen ward, beschloß ich ihm zu rauben; aus dieser erhabenen Sphäre ihn herab zu stoßen, ihn zum Lasterhaften, zum Frevler, ja womöglich zum Ungeheuer zu erniedrigen, ihn mit ebenso viel Schande zu überhäufen, als ihn zuvor Ehre krönte; und endlich, wenn ich ihn zu den schwärzesten Verbrechen hingerissen, ihn noch vielleicht jenseits des Grabes – o! wie schwellt mein Herz der stolze Gedanke auf! – beseufzen zu lassen, daß er mich jemals beleidigt." Henley selber ist kein Freigeist: "Rede ich gleich die Sprache des Freigeists, so fällt es mir doch schwer, so zu denken. – Wie sehr wünschte ich das Gegenteil. – Vielleicht würde ich selbst ein eifriger Verehrer der Religion sein, besäße ich nicht das, was große Geister Ehre, der gemeine Haufe Rachgier nennt." Er hält sich durch Jugend und Gesundheit gesichert und hofft noch auf Versöhnung mit Gott während seines Lebens: "Das Alter wird vielleicht dieses qualvolle Feuer bändigen, und wenn meine Feinde schon lange eine Beute des Verderbens geworden sind, werde ich noch Zeit haben –". Ganz dieselbe Figur ist auch Publius im "Brutus". Er haßt in dem Helden schon den Römer, den Unterdrücker Samniums; er haßt in ihm den Sohn des Mannes, der ihm Vater und Bruder getötet; er haßt in ihm den Mörder Cäsars. Brawe drückt seinen Intriguanten den Splitter ins Fleisch, daß es schwären muß, er setzt ihnen im Innersten zu und ihre Handlungsweise, so sehr sie über die Grenzen der Wahrscheinlichkeit und Menschlichkeit hinausgeht, ist nicht Aktion von Marionetten, sondern tiefe, aus dem Innersten quellende Leidenschaft. Die Dichter der deutschen Alexandrinerstücke machen sonst nicht einmal den schüchternen Versuch, die Sache ihrer Intriguanten zu maskieren, dem Gegenspiel irgend ein glaubhaftes Motiv in die Hände zu geben. Wer Gegensätze wie Henley und Clerdon, Publius und Brutus in jener Zeit einander gegenüber stellen konnte, hat sein Probestück als Dramatiker gemacht. Es ist etwas von dem Gegensatze zwischen Karl und Franz Moor in ihnen. Es sind Gegensätze, wie sie nur der Verstand ausdenken kann, übertriebene und unwahre Kontraste, aber doch solche, die sich aufreiben müssen. Über dem wilden Aufschrei der Rache verstummen in Brawes Dramen alle sanfteren und zärtlicheren Accente: die Liebe wird im ersten Drama mehr vorausgesetzt als dargestellt und verschwindet im zweiten ganz; und auch die Kindesliebe flackert nur in wildem, dämonischem Lichte auf: Clerdons Vater wird um seines Sohnes willen in den Schuldturm geworfen, Brutus von dem seinigen getötet.

In der dramatischen Technik dagegen zeigt das zweite Drama einen deutlichen Fortschritt des jungen Dichters an. Im "Freigeist" wird noch arg gegen die Wahrscheinlichkeit gefehlt. Die Personen gehen um einander <Seite 209:> herum, jedem liegt das lösende Wort auf der Zunge, welches das Stück ohne Blut zu Ende führen könnte, aber keiner spricht es aus. Die Motivierung ist kompliziert und doch nicht überzeugend, die Verbindung der Scenen linkisch und formelhaft. Wiederholungen derselben Vorgänge werden ebenso wenig gescheut als häufige Monologe, in denen die Personen ihr Inneres mehr vor dem Publikum als vor sich selber bloßlegen. Anders schon im "Brutus": hier nehmen die Unwahrscheinlichkeiten ab, der Bau des Stückes ist fester gefugt, die Disposition trotz strenger Bewahrung der Einheiten geschickt und regelmäßig, freilich wächst auch hier der junge leidenschaftliche Marcius, eine gleichzeitig mit Lessings Kleonnis und als Vorahnung des Philotas erdichtete Figur, der historischen Person des Helden über den Kopf: die jugendliche Begeisterung des Menschen trägt es hier über den unreifen Dramatiker davon. Freilich ist auch hier Brutus mehr stoischer Philosoph als Krieger, aber der spartanische Geist, den der Philosoph auf dem preußischen Throne zur Herrschaft brachte, verleugnet sich hier so wenig wie in Lessings Philotas, in Kleists Seneca, und ist etwas anders als der gespreizte Gleichmut und das hölzerne Heldentum des Codrus und anderer republikanischer Titelhelden in den deutschen Alexandrinertragödien. Abstrakt und gedacht sind ja auch Brawes Charaktere, und es fehlt ihnen an rechtem Fleisch und Blut: aber sie leben wenigstens in der Idee und, wenn sie auch nicht immer überzeugen, so wirken sie doch immer.

So wie in dem Anschlusse an die Engländer und das bürgerliche Trauerspiel ist Brawe auch in Hinsicht auf die äußere Form seiner Dramen der Schüler Lessings. Im "Freigeist" folgt er Lessings Beispiel und schreibt sein bürgerliches Trauerspiel in Prosa. Später beginnt Lessing den Entwurf eines Dramas "Kleonnis" in fünffüßigen stumpfausgehenden Jamben, läßt ihn aber liegen. Brawe setzt auch hier das Werk seines Meisters fort und dichtet im Jahre 1757 seinen "Brutus" in ebensolchen fünffüßigen Jamben. Während aber der "Freigeist" eine ganze Reihe von Aufführungen erlebte und zu den beliebtesten Stücken gehörte, wurde der "Brutus" gerade durch diese Neuerung von der Bühne ferngehalten. Allein in Wien, wo Sonnenfels dafür eintrat, wagte man am 20. August 1770 eine Aufführung, aber der ungewohnte Vers warf das Stück zu den Toten.

Der folgende Abdruck desselben mußte sich, da von dem ursprünglichen Texte nur noch Fragmente erhalten sind, an die Ramlersche Überarbeitung halten, welche in den "Trauerspielen Brawes" (1767) zu finden ist. Wer sich über die Textgestaltung des "Brutus" eingehender informieren will, findet diese und alle anderen über Brawe wünschenswerten Aufschlüsse in der tüchtigen Monographie von August Sauer: "Joachim Wilhelm von Brawe, der Schüler Lessings." (Straßburg, Trübner 1878; Quellen und Forschungen XXX); mit welcher Anzeiger f. deutsches Altertum V, 380 ff. zu vergleichen ist.

Jakob Minor.


  | oben |