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II. TEXTGESTALTUNG DES BRUTUS.

Unter den Papieren aus dem Nachlasse Lessings, welche die königliche und Universitäts-Bibliothek in Breslau gegenwärtig besitzt, befinden sich zwei Fragmente des Brutus, welche mir in sehr genauer Abschrift vorliegen. [1]

Lessing hatte, wie schon erwähnt, die Absicht, das Werk des verstorbenen Freundes selbst herauszugeben. Er begann zu diesem Zwecke mit der Abschrift des ersten Actes. Das Manuscript (M I) besteht aus vier paginirten Blättern Gross-Octav; sechs und eine halbe Seite sind von Lessings eigener Hand sehr rein und deutlich, doch etwas schnell beschrieben und mit fortlaufenden Verszahlen versehen: 167 Zeilen vom ersten Auftritte bis gegen Ende des fünften Auftrittes, bis zu dem Verse 'Hier zu versammeln – dann erkläre Dich'.

Das zweite Manuscript (M II) besteht aus Blättern in kleinerem Format, an M I anschliessend paginirt, von denen etwas über 17 Seiten beschrieben sind. Das erste Blatt von M II ist als Umschlagblatt über M I gelegt und trägt mit rothem Bleistift die Aufschrift 'Brutus 8'. Das Manuscript, stark vergilbt, enthält den fünften Aufzug des Brutus von Schreiberhand mit Tinte geschrieben und von anderer Hand mit Bleistift verbessert.

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Beide diese Fragmente liess Karl G. Lessing in G. E. Lessings theatralischem Nachlass 2, 155-186 als ein Werk seines Bruders abdrucken. Wohl bemerkt er in der Vorrede: 'Was ich von dem fünften Acte hier liefere, hat eine andere Hand geschrieben, und irre ich, wenn ich es gar nicht für seine Arbeit halte?' Jedenfalls erinnerte er sich nicht, das Drama selbst schon unter dem Namen eines anderen Autors herausgegeben zu haben.

Der Abdruck des ersten Fragmentes im theatralischen Nachlass ist bis auf wenige unbedeutende Einzelheiten genau nach Lessings Handschrift. Mit dem Drucke von 1768 verglichen, zeigt M. I vor allem Lessingsche Orthographie und eine fast durchwegs geänderte, viel sinngemässere Interpunction; im übrigen bietet es uns den ursprünglichen Text Brawes gegenüber dem von Ramler 'verbesserten' und durch einige sinnstörende Druckfehler [1] entstellten Text der Ausgabe (A).

An einigen Stellen hat Ramler den Vers geglättet; so hat er den vierfüssigen Vers mit klingendem Ausgange M I. V. 94 'Ich flog zu ihm, den nur Verirrten' auf einen regelrechten Fünffüssler gebracht A. 8 'Ich flog hinzu, ihn, den Verirreten'; V. 45 hat er die Stellung geändert, um die Betonung Méssalá zu verbessern, 114 statt 'Wie dunkel, Messala' aus demselben Grunde geschrieben A. 9 'Messala, wie versteckt!' Die Verse 16 und 17 (A. 4) sind aus keinem deutlich ersichtbaren Grunde umgestellt. An zwei Stellen hat er geändert, um die Häufung von Ausrufungen zu vermeiden: M. I V. 21 'O Graun! o Tag! o Rom!' A. 4 V. 13 'O Tag voll Graun! o Rom!' [2] M. 1 V. 78, 79. 'Der Stürme Zorn; der Erde Grund empört; || ein sinkend Capitol; ein sterbend Rom' – A. 7 V. 16, 17: 'Ich seh' den Grund der Erd empört; ich sehe || ein sinkend Capitol – ein sterbend Rom.'

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V. 189 f. 'Bald wird der Länder Königin ... der Erde Rest ihr Scepter fürchten sehn', ist wohl der Deutlichkeit wegen geändert A. 11 V. 3 v. u. 'Vor ihrem Scepter knien und zittern sehn'. Dadurch beginnt der folgende Vers im Drucke mit der Mitte des Verses in M. I und das Enjambement ist durch sechs Verse ein verschiedenes, bis A. 12 V. 5 sich der Zusatz findet: 'Denn glaube mir'. Auch A. 12 V. 3 ist 'der Tag' eingeschoben; vielleicht hat zu dieser Aenderung der in M I vorhandene Hiatus 'Unsterbliche! – an' beigetragen.

Von kleineren Aenderungen wären zu erwähnen M. I V. 10 'der fürchterliche Tag' A. 4 V. 2 'feierliche'; M. I V. 25-27. Entfesselt jauchzt || der Erdkreis bald, dir seinem Held, || Erretter, Rächer zu.' A. 4 V. 2. v. u. 'Entfesselt jauchzt || der Erdkreis bald dir seinem Helden, bald || dir seinem Rächer zu.' M. I V. 43 'naht', A. 6 V. 1 'droht'; M. I V. 49 'empört' A. 6 V. 7 'entbrannt'; M. I V. 151 'der Erde Rest' A. 11 V. 3 v. u. 'der Rest der Welt'.

Was das zweite Fragment M. II betrifft, so ist der mit Tinte geschriebene Text eine Abschrift wahrscheinlich aus Brawes Originalmanuscript, von einem sehr unverständigen und unachtsamen Schreiber angefertigt; mit dem Text der Ausgabe von 1768 verglichen, ergeben sich hier viel stärkere Aenderungen Ramlers als im ersten Acte.

Er hat auch hier vierfüssige Verse gebessert: A. 98 V. 11 'Zu fliehen. Ich begehre nicht von dir' ist geändert aus M 1 'zu fliehn. Ich fordre nicht von dir' A. 106 V. 1 v. u. fehlt das Wort 'Tyrann' in M. II. Auch hier hat er wegen der Betonung des Wortes Messala geändert A. 93 V. 8 'Geliebter Freund! || Entledige mich noch von einer Furcht'. M II Mein Messala || mein Freund, entledige mich dieser Furcht! A. 104 V. 8 f. 'Nein! geliebtester || Messala! und auch du, grossmüthiger || und weiser Greis!' M. II 'Méssalá, und du, || grossmüthger Greis.' [1]

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Die gehäuften Ausrufungen ändert Ramler auch hier: A. 88 V. 7 v. u. 'In diesem Augenblick in seine Brust.' M. II 'In seine Brust. O Abscheu – Frevel – Graun!' – A. 85 V. 3 ff. 'Verlasst mich Peiniger, [1] || Gedanken! – Ich in Brutus' Lager? Wie? || Ich hier?' M. II 'Verlasst mich Peiniger || Gedanken! – Tod! – Wie? Brutus' Lager? ich || bin hier?' Dann einige Einzelheiten: A. 95 'reuigsten' M II 'niedrigsten'; A. 98 'Verwegener' M II 'Verworfener'; A. 106 'erderschütternd' M || 'erderschreckend'.

Am meisten änderte Ramler im vorletzten Auftritte, in der Scene zwischen Vater und Sohn, z.B.: A. 95 'Ach! Marcius || ist statt der Rachbegier ganz Reue, ganz Verzweiflung'. M II 'Ach Marcius || ist für die Ruhmbegier; für jeden Trieb || des Unschuldsvollen todt, ganz Reue, ganz Verzweiflung!'

A. 96

Ja, ich bins
Die Strafe fühl ich schon, die einzige,
Die meiner Frevel werth, und eben so
Wie sie unmenschlich ist: Ich bin dein Sohn,
Ich bin ein Vatermörder! – Tag, der mir
Der erste war, dir fluch ich! sei der Nacht
Des Schreckens gleich, die meine Seel' umhüllt!
Sei furchtbar, tödtend, ein Gebärer stets
Von Vatermördern, und von Publiern! –
Was zögert die Vernichtung noch? Was nützt
Mir dieses Dasein, dieser Fluch? Erhört,
Mich Götter! – Doch ihr seid für mich nicht mehr:
Ihr Furien! Entsetzen! Höllenpein!
Verzweiflung! ihr, ihr meine Götter, kommt!

M. II

Ich bins,
Ich fühle nur die einzge Strafe – sie
Die einzige, die meiner Frevel werth,
Wie sie, unmenschlich ist, – Ich bin dein Sohn –
Bin Vatermörder! Dir, dir, fluch ich Tag,
Der mir der erste war, sei gleich der Nacht
Des Schauers, der in meiner Seele herrscht'.
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Schwarz, tödtend, ernst – Sei ein Gebärer stets
Von Vatermördern und von Publius!
Was zögert die Vernichtung? was nützt mir
Dies Dasein, dieser Fluch? Rund um hüllt mich
Das Elend ein – Ihr Götter, doch ihr seids
Nicht mehr, Ihr Furien – Entsetzen, Pein –
Verzweiflung – ihr, ihr, meine Götter, kommt!

A. 97

Richtend schwebet über dir
Der Arm der Götter. – Und dein Vater muss
Es sehn, Unwürdiger! und muss dem Grimm
Der Götter danken, die an seinem Sohn'
Ihn rächen.

M. II

Richtend schwebt hoch über dir
Der Götter Arm – Dein Vater muss es sehn,
Unwürdiger, so unerbittlich [1] zürnt
Der Sturm, der ihn darnieder schlägt, dass er
Dem Grimm der Götter, die an seinem Sohn
Ihn rächen, danken muss.

Wir haben im Brutus eines der vielen litterarischen Producte des vergangenen Jahrhunderts vor uns, welche erst nachdem sie durch Ramlers Hand gegangen waren, in die Oeffentlichkeit gelangten; sein Streben, einen reinen, glatten Vers herzustellen, alle Härten zu tilgen, können wir hier ebenso gut beobachten, wie die Sucht, alles über seinen Gedanken- und Gefühlskreis hinausgehende in seine Sphäre herabzudrücken; beide diese Gesichtspunkte dürften sich bei näherer Untersuchung für die Ramlerischen Aenderungen überhaupt als die massgebenden herausstellen.

Das Manuscript des fünften Actes ist mit Bleistift corrigirt; es sind vor allem die vielen Schreib- und Lesefehler gebessert, aber nicht immer richtig, also wohl ohne Vorlage. Zahlreiche Verse sind geändert, der zweite Theil stark gekürzt, Reihen von 5-10 Versen durch Striche ganz getilgt. Diese Correctur geht nicht auf Lessing zurück; die Schrift spricht entschieden dagegen, [2] wenn man auch kein <Seite 127:> Gewicht darauf legen wollte, dass K. G. Lessing sagt, nur der erste Act sei von seines Bruders Hand.

Die Correcturen können aber auch nicht auf den Verfasser zurückgehen; abgesehen davon, dass sich zwei Verse mit weiblichem Ausgange, zwei Sechs- und ein Dreifüssler darin finden, wie dies Brawes Gebrauch des Verses widerspricht, so zeigt sich an einigen verderbten Stellen der Abschrift deutlich das Bestreben, dieselbe zu verändern, um Sinn hineinzubringen; der Verfasser hätte sich offenbar an die richtige Fassung erinnern müssen.

Es ist in diesem Falle schwer, Vermuthungen aufzustellen, da die Schrift sehr flüchtig und theilweise unleserlich ist; es hat daher nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit, wenn ich meine, die Correctur rühre von einem anderen Freunde des Leipziger Kreises, vielleicht von Chr. F. Weisse her.

Ganz eigenthümlich verhält es sich nun mit dem Drucke dieses zweiten Fragmentes im theatralischen Nachlass. Es liegt demselben unzweifelhaft die eben besprochene Abschrift zu Grunde; dieses zeigen die mit abgedruckten sinnlosen Fehler. Dieser Druck ist ein höchst flüchtig zusammengeworfenes Conglomerat aus dem mit Tinte geschriebenen Text und den Bleistift-Correcturen, wobei Lessings Bruder kein Bedenken trug, nach Belieben noch viel mehr Verse wegzustreichen oder aus eigenem hinzufügen und zu ändern. Was er hier abdrucken liess, ist um die Hälfte kürzer als der fünfte Act der Ausgabe – hier 191, dort 370 Verse – der letzte Monolog des Marcius ist um 26 Zeilen kürzer; die Wortstellung beliebig verändert, trotzdem aber auf Correctheit des Verses kein Gewicht gelegt.


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[1] Durch freundliche Vermittlung des Herrn Professor Friedrich Pfeiffer und durch die Güte des Herrn Paul Regell.

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[1] Druckfehler A. 3 V. 6 'der eine Welt' statt 'den'; 10 V. 3 nie statt nicht. 62 müssen die letzten Zeilen gelesen werden 'den der Glanz, der grossen Thaten folgt, darzu erkauft'. 66 'Ich fühl', ich fühl' es; ihr begeistert mich', statt 'ich fühl mich'; 91 V. 4 'that' statt 'thut'; 93 V. 2 v. o. zu lesen fliehst statt flehst. 103 V. 15 dichtgedrängte Reihn glanzvoller Thaten statt ganz voller Thaten.
[2] Vgl. Freigeist 224; 'O Tag voll Frevel! voll Graun!'

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[1] Wahrscheinlich liegt auch in den anderen Versen, in denen im Drucke die Betonung Messála steht, eine Aenderung Ramlers vor; so wird Brawe A. 53 und 55 geschrieben haben 'Nein Méssalá' und nicht 'Messála nein'; ebenso A. 82 'sieh Mésallá'; ähnlich 53, 54, 73 Vgl. Anhang III.

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[1] Vgl. Freigeist 219 'Hinweg quälende Vorstellungen! Lasst ab mich zu tödten! Wie? nirgends kann ich euch entfliehen? Hier, nur hier lasst mich, Peiniger, ruhen!' Lessings Uebersetzung des Agamemnon von Thomson (Werke Hempel 11 b, 521). 'Weg, theure, klägliche Ideen! Weg, ihr Verderber! – – Lass nach, Peiniger!'

<Seite 126:>

[1] Mit Tinte über der Zeile: 'unversöhnlich'.

[2] Herr Dr Prinz in Breslau, ein sehr guter Kenner von Lessings Handschrift, erklärte die vorliegenden Schriftzüge entschieden für nicht Lessingisch.


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