Zweiter Auftritt.
Clerdon, Amalia.
Amalia (die in wilder Betrübnis auftritt). Zu Ihnen, Clerdon!
muß ich fliehen – Ihren Beistand, Ihr Mitleiden muß ich
anflehen – Mein Bruder –
Clerdon. Wessen Stimme höre ich! – (Indem er sie erblickt.) O
Rache – Miß – ich bin verloren!
Amalia. Sie erschrecken? So wissen Sie denn schon, daß der beste,
der zärtlichste Bruder – daß Ihr Freund von der Hand eines
Bösewichts entseelt liegt? – Ich Unglückliche konnte den
entsetzlichen Streich nicht verhindern – ich konnte zum mindsten
die letzten zärtlichen Worte von seinen sterbenden Lippen nicht
aufsammeln – seine brechenden Augen konnte ich nicht zudrücken,
und auch den traurigen Trost, seinen blutigen Überrest zu
umarmen, versagt man mir.
Clerdon. Unglückliche Miß! – unseliger Mörder! –
Amalia. Sie müssen seinen Tod rächen, Sie müssen dem Mörder
nacheilen. Ein geheimer und um soviel gefährlicher Feind muß
ihm nachgefolget und keinen bequemern Ort zu seinem Frevel
gewußt haben. Auf, Clerdon! vielleicht ist der Bösewicht noch in
dem Bezirk dieser Mauern.
Clerdon. Wie, Miß? ich seinen Tod rächen? – ich Elender! –
Amalia. Und wem könnte dieses traurige Geschäfte anders
zukommen als Ihnen? Waren Sie nicht stets der liebste und
teuerste seiner Freunde? Wüßten Sie, wie zärtlich er für Ihre
Wohlfahrt besorgt war, wie viele wehmütige Tränen Ihre
bedrängten Umstände ihm abgelockt, wie sehr seine Seele mit der
Ihrigen litte, mit welcher Ungeduld er diese Reise
beschleunigte, die er bloß zu Ihrem Besten unternahm, wie sein
ganzes Herz in Wollust zerfloß, wenn er sich Ihr durch ihn
wieder aufblühendes Glück vorstellte; wüßten Sie die Entwürfe,
die er machte, es Ihnen auch nach seinem Tode zu versichern –
vielleicht gab ihm dies Ihr Schutzgeist ein, der den traurigen
Fall voraussah – wenn Sie dieses wüßten – doch warum sollten
Sie es nicht wissen? Sie liebten ihn ja auch – nur zu sehr sehe
ich, welche betäubende Traurigkeit sich durch Ihre Seele
verbreitet hat, ich lese Ihre Verzweiflung in Ihren Augen.
Clerdon. O Tag voll Frevel! voll Grauen! warum mußte ich dich
erleben?
Amalia. Ihre Schmerzen, Ihre stürmische Angst machen Sie mir
noch teuerer. Nun erkenne ich den wahren Freund –
Clerdon. Fliehen Sie mich, Miß, fliehen Sie mich auf ewig, Sie
würden mich verabscheuen, wenn Sie mich kennten.
Amalia. Ich Sie fliehen? Wo bliebe mir nach Ihnen noch eine
Zuflucht übrig. In meinem Bruder hat eine grausame Hand mir die
letzte Stütze geraubt – Sie allein sind mitten unter den Ruinen
von dem, was mir jemals teuer gewesen, zurückgeblieben; Sie –
denn warum sollte ich eine Liebe, die von allen gebilligt wird,
leugnen –, Sie, den zu lieben, durch eine süße Gewohnheit mein
Herz schon so lange zu seinem vorzüglichsten Geschäfte gemacht
hat; Sie, den selbst der Wille des zärtlichsten Bruders
bestimmte, künftig mit mir vereinigt, gesellige Tränen seinem
Andenken zu weihen, Sie allein müssen mir itzt alles, was ich
verlor, ersetzen, Sie müssen meinen Verlust an dem Unwürdigen
ahnden, der ihn verursachte – vielleicht frohlockt der
Blutdürstige itzt über den gelungnen Frevel. Noch einmal,
Clerdon, eilen Sie ihm nach. Bei dem vergoßnen Blute Ihres
Freundes, bei seinem Andenken, bei Ihrer Zärtlichkeit gegen
mich beschwöre ich Sie –
Clerdon. Nicht weiter, Miß; diesen Reden kann ich nicht länger
widerstehn. Sie sind gleich tausend brennenden Schwertern in
meiner Brust. Sie sollen alles wissen – Sie werden mich hassen,
Sie werden mich verfluchen – zu meinem Verderben sollen Sie
alles wissen – ich kenne den Mörder.
Amalia. Sie kennen ihn? und noch befleckt das Blut meines
Bruders ungeahndet die Erde? noch geht das Ungeheuer, das ihn
töten konnte, triumphierend und frei herum? – Nennen Sie mir
ihn; ich gehe selbst, alles wider ihn aufzubringen.
Clerdon. Sie wollen es – zittern Sie – er ist –
Amalia. Wer?
Clerdon. Ich selbst.
Amalia. Ist's möglich? – Clerdon – Nein, Ihre zerrüttete
Phantasie reißt Sie dahin – Sie sind nicht der Mörder meines
Bruders; Sie konnten nicht den zärtlichsten, den großmütigsten
Freund durchbohren und diejenige zu beständigen Tränen
verdammen, die Sie unaussprechlich liebt – Nein, Clerdon, dies
konnten Sie nicht.
Clerdon. Ich wäre zu irgendeinem Frevel unfähig? – ich betrüge
Sie nicht, Miß, ich bin der Mörder, ich bin das Ungeheuer, das
Sie so lange verkannt haben.
Amalia. Die Übermaß der Schmerzen hat Ihren Geist überwältigt –
fassen Sie sich und hören Sie auf, mich mit so ausschweifenden
Reden zu schrecken. Schauer durchströmt mich bei dem bloßen
Gedanken, daß Ihnen diese Tat möglich gewesen – Wie? Sie wären
unmenschlich genug? – nein! ein einziger Blick Ihres Freundes
würde Sie entwaffnet haben.
Clerdon. Sie müssen mir glauben, Miß – ich will es, ich fodere
Ihren Haß – das Ärgste, das Fürchterlichste für mich – ich
brenne, mein Verderben vollendet zu sehn. Ja, Ihr Bruder fiel
durch meine Hand und fiel unschuldig; Eifersucht, Irrtum, ein
Geist des Verderbens, der sich meiner bemächtigte, trieb mich zu
der entsetzlichen Tat – Wo seine Angst, seine Wut, seine
Verzweiflung, wo der Abscheu, mit dem die ganze Natur sich wider
ihn empört, Ihnen den Mörder nicht verraten, so erkennen Sie
ihn an dem Grausen, das ihm Ihre Gegenwart einjagt – sie war
unaussprechliche Wollust für ihn, solange er unschuldig war –
Überzeugt Sie dies nicht, so fürchten Sie, daß die Erde vor
Ihren Augen sich unter ihm aufreiße und Sie zwinge zu glauben –
Nein, Miß, keine zerrüttete Einbildung spricht aus mir; ich
schwöre bei den unerträglichen Gerichten –
Amalia. Entsetzlicher Schwur! – schreckliches Licht, das mich
überfällt! – Hinweg, Mörder – Ungeheuer – das Blut deines
Freundes strömt an dir herab – Raserei und Mordlust umgeben dich –
ich sehe ihn, ich sehe den Unglücklichen sorglos für sein
Geschick zu dir nahen, ich sehe, wie dein wütender Arm den
blutdürstigen Stahl gegen ihn emporhebt – gegen ihn? – Unmensch!
er denkt auf nichts als dein Wohl – du durchbohrst eine Brust, an
die die Freundschaft dich so oft mit Inbrunst drückte – Kann
dich nichts erweichen? nicht jene sanfte Majestät, die von
seiner Stirne herabstrahlt, nicht jene Mienen, die Güte und
Menschenliebe reden? – O Entsetzen! ich sehe ihn fallen, ich
sehe ihn den Tod doppelt fühlen, da er ihn von der Hand des
Freundes empfängt – Du verweilst noch hier, Wütender? du tötest
mich noch länger durch deinen Anblick? Trunken vom Blute des
Bruders, bist du ungeduldig, dich mit dem meinigen zu sättigen?
Kröne deinen Triumph, stoße den grausamen Stahl, den Mörder
deiner Freunde, in diese Brust – töte mich – denn auch ich kam,
dich zu retten.
Clerdon. Deine Wut ist erschöpft, verfolgendes Geschick;
nunmehr bin ich zum tiefsten Abgrund der Verzweiflung
hinabgesunken; ich trotze itzt deinem Haß, versuche es, erfinde
neue, höhere Qualen für mich – Und dennoch übersteigt diese
peinigenden Empfindungen die Größe meines Verbrechens. Sie
selbst, Miß, wissen noch nicht jeden Umstand, der es erhöht. Sie
kennen noch nicht den ganzen erhabnen Geist, den ich der Welt
raubte – Hier an diesem Orte empfing ich Vergebung von seinen
sterbenden Lippen; hier war es, wo er mit seinem Mörder von
nichts als Liebe redete; hier war es, wo seine emporstrebende
Seele nur darum zu verweilen schien, ihre ganze Größe zu
entfalten und, von einem blendenden Schimmer mehr als
menschlicher Tugend umflossen, die Erde zu verlassen.
Amalia. Er hat demjenigen vergeben –
Clerdon. Ja, er tat es und noch mehr, er hat ihn gewürdigt, ihn
Freund zu nennen. Er hat seine letzten Tränen über das
Schicksal seines Mörders vergossen und die feurigsten Gebete
für das Wohl des Zerstörers seines irdischen Glücks gesprochen.
O Andenken, das ewig sein Rächer sein wird! – ich sah ihn seine
erstarrenden kraftlosen Arme, da ihm die siegende Gewalt des
Todes sie kaum noch zu erheben erlaubte, voll Zärtlichkeit gegen
mich ausstrecken, und in meinen Umarmungen hauchte er die
göttliche Seele aus. So einen Bruder habe ich Ihnen entrissen.
Schütten Sie nunmehr Ihren ganzen Zorn über mich aus; überhäufen
Sie mich mit Flüchen – Wie! Sie blicken mich mit Tränen, mit
einer Miene voll Mitleid an – Nicht diese Empfindungen, Miß –
Sie beleidigen das Andenken meines Freundes – Zorn, Wut,
Abscheu, Verwünschungen, diese fodre ich, diese verdiene ich.
Amalia (nach einem langen Stillschweigen). Meine ersten
Bewegungen haben mich hingerissen – wie unähnlich war ich dir, o
mein erhabner Bruder! – dein Beispiel begeistert mich itzt – ich
sehe, wie du mir aus jenen Gegenden, wo Glanz und Unsterblichkeit
dich krönen, zurufst und mir jene großmütige Sanftmut
empfiehlst, für welche dich itzo das Lob der Himmel belohnt. Mein
Bruder hat Ihnen vergeben, Clerdon, und ich würde strafbar sein,
wenn ich Rache gegen den aushauchte, den er noch sterbend seinen
Freund nannte. Da seine Lippen Sie segneten, so sei es fern, daß
die meinigen von Verwünschungen wider Sie strömen sollten. Nur
zu sehr bemerke ich, was für bittre Vorwürfe Ihnen Ihr eigen
Herz macht – Ich verzeihe Ihnen, und ich bedaure Sie – Möchte
Ihnen doch jener göttliche Richter auch verzeihen!
Clerdon. Dies kann er nie. Die Tränen, die ich eine so
edelmütige Tugend zu weinen zwinge, sind zu mächtige Ankläger
für mich.
Amalia (nach einigem Stillschweigen). Wir müssen uns trennen.
Dieser unglückliche Zufall hebt alle Verbindung zwischen uns
auf. Ich eile, mich einer beständigen Einsamkeit zu widmen und
den Bruder und Geliebten zu beweinen, die mir beide ein
neidisches Geschick auf einen Tag entwandt hat – Unglücklicher
Clerdon, könnten Sie doch der Ruhe künftig genießen, der ich nie
wieder genießen werde!
Clerdon. Sie mich auf ewig verlassen? – Doch ja, Sie müssen es.
Nie sollen Sie den strafbaren Clerdon wieder erblicken –
möchten Sie mit ihm alle Schmerzen vergessen, die er Ihnen jemals
verursachte! – ich gehe zu sterben, und bald soll ein rächender
Tod –
Amalia. Nein, Clerdon, leben Sie, wo meine letzte Bitte etwas
über Sie vermag, so leben Sie, um Ihre Verbrechen zu beweinen
und einen Gott zu versöhnen, den Sie so sehr gereizt haben. Warum
mußten Sie ihn jemals verlassen, und warum wollten Sie zu so
vielen Empörungen die größte hinzutun und den Tod wählen, da
er Ihnen zu leben erlaubt – meine hervorbrechenden Tränen
verbieten mir, diese Unterredung fortzusetzen – noch einmal,
Clerdon, wiederhole ich es, leben Sie, und wo meine Wünsche bei
dem Himmel etwas vermögen, so werden Sie glücklich leben. (Sie
geht ab.)
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