Brawe Ressourcen Logo | unten |

<Seite 28:>

KRITIK.

Das Stück zeigt auf allen Seiten den Anfänger. Die häufigen Monologe fallen sofort auf. Die Verkettung ist sehr künstlich und doch nicht überzeugend bewirkt. Clerdon und Henley haben ihre Diener zu Vertrauten; beide Diener sind <Seite 29:> tugendhaft oder beweisen sich so im Stück. Ist es wahrscheinlich, dass Henley, der einen so tief angelegten Racheplan durchführt, den Diener, dessen Entsetzen er sieht, weiter einweihen wird (I. 1. 3)? Dieser Racheplan selbst, der programmmässig verläuft, das fortwährende Rechnen mit dem Jenseits, mit Hölle und göttlichem Gericht, hat etwas so Kindliches, wie die Naivetät, mit welcher Dramatis Personae gelegentlich veranlasst werden zum Besten des Publicums ihr Inneres blosszulegen.

Clerdons Benehmen gegenüber Granville und Amalia (III. 3. 6) erklärt sich aus dem Versprechen des Stillschweigens, das er (III. 2) Henley abgelegt. Aber wie abstract, wie gegen die Wahrscheinlichkeit ist das festgehalten! Dass er kein Wort zu viel sagt, kein Wort, das unwillkürlich Licht gäbe! Dass andererseits Granville und Amalia kein Wort zu viel sagen, dass auch sie nicht unwillkürlich, da sie doch den Freund von ihrer unverminderten Liebe überzeugen wollen, die Gesinnungen offen aussprechen, mit denen sie ihm nachgereist! Ja, Clerdon geht in seinem gewissenhaften Verhalten weiter als Henley verlangt hat. 'Erinnern Sie sich – sagt dieser III. 5 – wie heilig Sie mir versprochen, nichts gegen ihn von mir und seinem Vorhaben zu gedenken; dass Sie es wissen, darf er nicht eher erfahren, als bis er Sie im Begriff sieht, es zu strafen.' Aber aus Clerdons eigener Erzählung (IV. 5) ergibt sich, dass er tobend auf Granville einstürmte, ihn zum Zweikampf aufforderte und auch jetzt noch nicht die Ursache seines Zorns angab: 'Er entsetzte sich, er flehete, er beschwor mich auf das rührendste, ihm nur sein Verbrechen vorher zu eröffnen; er verschwendete die zärtlichsten Liebkosungen; nichts erweichte mich.' Man kann nicht läugnen: Clerdon ist zu einem Gimpel gemacht und verdient es, das Opfer eines so plumpen Betruges zu werden. Seine blinde Heftigkeit bricht nur aus, wo sie der Dichter brauchen kann. Auch sonst verrathen die Charaktere einen gänzlichen Mangel an Lebenserfahrung auf Seiten des Dichters. Granville ist nur Engel, Henley nur Teufel, und beiden fehlt jedes interessante Detail.

Die Art wie sie einander fortwährend ausweichen hat <Seite 30:> etwas Komisches; diese beiden äussersten Gegensätze müssen sorgfältig vor einem offenen Zusammenplatzen gehütet werden, damit nicht in Eifer von Rede und Gegenrede vorzeitige Enthüllungen stattfinden.

Dass der vierte Act die Klippe der regelmässigen Tragödie sei, scheint sich der junge Dichter fest eingeprägt zu haben. Er sucht ihn möglichst interessant und dramatisch zu machen. Daher kommt die Sache sehr langsam in Gang und die öden Strecken sind über die drei ersten Acte, Wiederholungen der Motive reichlich über das Ganze vertheilt.

Einheit der Zeit und des Ortes werden strenge festgehalten; der Ort ist nicht angegeben, aber alles geht in demselben Gasthofe, wohl in verschiedenen Zimmern vor sich. Um Decorationswechsel innerhalb des Actes zu vermeiden, muss Granville (III. 4) seine Schwester holen. Die Personen auf die Bühne und von der Bühne zu bringen, macht dem Dichter grosse Mühe. Immer diese Entschuldigungen der Gehenden, diese Ankündigungen der Kommenden, oft wörtlich wiederholt. [1] Wirthspersonal oder Polizei scheint durch das Duell mit seinem blutigen Ausgang nicht in Bewegung gesetzt zu werden.

Die Liebe zu Amalia, der Grund von Henleys Feindschaft gegen Clerdon, spielt im Stücke selbst eine geringe Rolle. Clerdons Betheuerungen gehen über kahle Allgemeinheiten nicht hinaus. Nirgends eine trostvolle Erinnerung an früheres Begegnen und Finden; kein Rückblick auf bessere Zeiten, auf Liebeskeimen und erstes Glück.

Ebenso nehmen Clerdons angebliche 'frevelhafte Ausschweifungen' oder 'erniedrigende Wollüste' nirgends concrete Gestalt an.

<Seite 31:>

Alles ist Anschauung und Sprache eines Musterjünglings, wie ihn Gellert sich als Ideal vorstellte, wie die moralischen Vorlesungen ihn auszubilden strebten, eines Menschen, der die Natur und das Leben nur vom Hörensagen kennt. Da war es denn auch nicht anders möglich, als dass Miss Amalia ein schattenhaftes Wesen wurde, das nur allgemeine Gefühle kundgibt und nur allgemeine Gefühle erregt.

Viel breiter wird die Elternliebe in Scene gesetzt, oder eigentlich die Liebe zum Vater: denn von der Mutter ist nie die Rede. Hierdurch tritt der Freigeist in eine Linie mit den Dramen jener Zeit, welche das Verhältnis zum Vater stark betonen und Vatermord zum Gegenstande haben. [1]

Aus Henleys und aus Clerdons eigenen Erzählungen in den Expositionsscenen entnehmen wir, wie herzlich und friedlich seine Beziehungen zum Vater gewesen seien und wie grausam und liebelos er dann gegen ihn verfahren. Alle Schulden des Sohnes hatte er mit dem Verlust seines Vermögens getilgt; zuletzt aber raubte ihm der Entartete den kleinen zurückbehaltenen Rest und brachte ihn durch seine Flucht ins Schuldgefängnis. So oft Clerdon an sein unkindliches Verfahren zurückdenkt, überkommt ihn Schmerz und Reue; der Gedanke, seinen Vater hilflos verlassen zu haben, verfolgt ihn bei Tage, wenn der Verführer ihn verlässt und schleicht sich Nachts in seine aufgeregten Träume, wie er einen solchen zu Beginn des Stückes erzählt, worin er seinen Vater sterbend zu seinen Füssen liegen sah.

Seine düsteren Ahnungen erfüllen sich: als er den Tod des Vaters wirklich erfährt, fühlt er schon aus den ersten unvollkommenen Berichten Granvilles (II. 3) heraus, dass er denselben beschleunigt habe und dem spottenden Henley gegenüber sagt er ausdrücklich (II. 5): 'Haben nicht meine Ausschweifungen seine Tage verkürzt? Bin ich nicht sein Mörder, der Mörder meines Vaters, meines Wohlthäters!' Den späteren genaueren Bericht Granvilles (II. 6) unter- <Seite 32:> bricht er nur durch dumpfe Ausrufe der Verzweiflung; nach der Ermordung Granvilles (V. I) sieht er die Gestalt des getödteten Freundes vor sich; aber auch da drängt sich der Geist des Vaters heran und überschreit gleichsam die neueste That des Schuldigen. 'Der Fluch, den nicht deine Lippen, den dein Elend über mich aussprach, stürmt mit unversöhnlichem Zorn auf mich los. Ach! mein Vater!'

Trotz den mannigfachen Fehlern, die das Stück aufweist, begreift man, was Lessing und das Publicum des 18. Jahrhunderts daran fanden.

Der Stoff musste in einer religiös bewegten Zeit tiefste Lebensfragen aufregen. Und es fehlt auch nicht an dramatischem Leben: fast durchweg starke Wirkung auf die 'Leidenschaften', wie Lessing sagt, auf die Affecte des Zuschauers. Gleich die erste Scene, Henleys Selbstenthüllung, konnte eine gewisse Wirkung nicht verfehlen; von da ab wurde das Publicum gegen den teuflischen Verführer in Hass entflammt; dann gleich darauf Widston in seiner gedrückten Stimmung, den Mahnungen seines Gewissens lauschend; dann der Traum Clerdons, dessen Motive in einigen Monologen, besonders am Schlusse, wiederkehren und so die ahnungsvolle Vorbedeutung erhöhen.

Im weiteren Verlaufe brachte ohne Zweifel der Tod des Vaters in der Erzählung Granvilles, dessen Schilderung theilweise verstärkt wiederholt wird, grosse Rührung hervor; der wuthentflammte Clerdon, seine Erzählung von dem unglücklichen Kampfe mussten das ganze Interesse des Zuschauers in Anspruch nehmen, bis der Tod des edlen Granville mit seiner ganzen himmlischen Verklärung ringsum viel Thränen vergiessen machte. Im fünften Acte werden wohl die Monologe Clerdons gar zu lang; aber vortrefflich ist die Scene zwischen ihm und Amalia angelegt, worin die tragische Ironie gute Wirkung thut: Amalia bittet den Mörder, ihren Bruder an dem Mörder zu rächen. Dabei wird man gespannt, ob etwa Clerdon Granvilles Bitte erfüllen, Amalien den wahren Zusammenhang verschweigen und sie heiraten wird; aber Schuldgefühl und Reue haben ihn überwältigt, er enthüllt sich als <Seite 33:> Mörder des Bruders und empfängt ihren Fluch. Aber neue Wendung, grosser Rührungseffect: Edelmuth, Versöhnung.

Fast durchweg gut sind die Erzählungen, deren wir ja eine ganze Reihe zu verzeichnen hatten; ein kleines Meisterstück geradezu in stilistischer Hinsicht, präcis und kurz, ist Henleys Erzählung von der allmäligen Verführung Clerdons, und darin das originellste die Umwandelung desselben zum Freigeist, in der ersten Scene des ersten Actes. –

Mit diesen Vorzügen und Schwächen stand der Freigeist dem Codrus gegenüber. Aber unser Urtheil ist dem der Preisrichter entgegengesetzt.

Wenn man etwa Schlegels Canut und darauf Miss Sara Sampson liest, oder nur einen Act oder eine Hauptscene dieser Stücke sich nacheinander vergegenwärtigt, so hat man ungefähr dasselbe Gefühl, wie wenn man den Codrus und den Freigeist hinter einander durchläuft, wie sie in der Bibliothek d. sch. W. abgedruckt stehen. Der grosse Vortheil, den die dramatische Prosa zu jener Zeit mit sich brachte, das entfesselnde, befreiende, das in ihr gegenüber den gereimten Alexandrinern lag, kann dadurch voll und ganz ermessen werden.

Codrus ist ein durch und durch langweiliges Stück; kein einziger Charakter tritt uns näher; bei allen derselbe Ausdruck, dieselbe Sprache, der gleiche Edelmuth. Man könnte eine ganze Reihe allgemeiner Sentenzen andern Personen in den Mund legen, ohne dass es störend wirkte. Auch der Vers ist nicht am besten gehandhabt, nicht nur der Alexandriner Schlegels, auch der in Breithaupts Renegaten liest sich besser.

Das Urtheil der Preisrichter beweist also, wie sehr auch sie noch in den alten Ansichten der französischen Tragödie befangen waren, wie ihnen noch die 'Sentiments' in zwei gereimten Zeilen lieber waren, als die ungezwungene Sprache des Gefühls. Lessings Sara und seine kritischen Bemühungen hatten noch keinen gänzlichen Umschwung der Ansichten hervorgerufen, wenn auch weit und breit ihr bedeutender Einfluss zu erkennen war.


<Seite 30:>

[1] I. 3. Jetzt entferne ich mich, auf Mittel zu denken; I. 4. Ich gehe, ein Mittel zu erfinden; II. 8. Ich gehe, es zu versuchen. – II. 5. Ich höre jemand kommen, vermuthlich ist es Granville; III. 2. Doch es kömmt jemand; vielleicht ists Granville; IV. 4. Ich höre jemand kommen. – II. 5, II. 7. Ich verlasse Sie. – I. 1. Verlass mich, es nähert sich jemand; III. 1. Mich dünkt, es nähert sich jemand; IV. 3. Er naht sich – III. 5. Ein Geräusch erhebt sich! IV. 5. Welch ein Geräusch erhebt sich! Vgl. Brutus V. 2. Dies Geräusch verkündigt ihn.

<Seite 31:>

[1] Vgl. Capitel IV.


  | oben |