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Schmidt, Erich: Rezension zu August Sauer: Joachim Wilhelm von Brawe, der Schüler Lessings. In: Jenaer Literaturzeitung Nr. 52/1878. Hg. von Anton Klette. Leipzig: Veit 1878. S. 730-731.

<Seite 730:>

August Sauer, Joachim Wilhelm von Brawe der Schüler Lessings. (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte. XXX). Strassburg, Karl J. Trübner 1878. 148 S. 8°. M. 3.

746] Ein ganzes Buch über einen zwanzigjährig verstorbenen Dichter, der nur ein paar schwache Versuche hinterlassen hat? Aber diese Versuche gelten einer neuen Gattung und wurden unter der Anregung und Controle Lessing's angestellt. Es handelt sich hier, wie schon der gut gewählte Titel besagt, nicht um eine auf den Einzelnen beschränkte Monographie, die nach der Geringfügigkeit des Stoffes dürftig genug ausfallen müsste, sondern um umfassendere Betrachtungen, welche diesen Einzelnen als dienendes Glied der grossen literarischen Bewegung festhalten und von ihm emporblicken zu dem Führer. Mit Recht hat Sauer seinen Raum möglichst weit abgesteckt. Er musste schon deshalb manches angrenzende Landstück erobern, weil sein Acker sonst zu klein bliebe, er durfte auch den Schein nicht scheuen, als sei der Faden, an den er seine Excurse heftet, etwas zu dünn, aber vor Allem wollte er sich nicht beschränken, weil er in historischem Geiste und im grossen Zusammenhange arbeitet.

So hat er uns mit einer vortrefflichen Arbeit beschenkt, welche seltene Vollständigkeit in der Bewältigung aller einschlägigen Fragen und Anknüpfungen, geschickte Analyse, sichere Charakteristik mit einer klaren Darstellung und anerkennenswerth anschaulichen Gruppierung vereinigt. Es war ein glücklicher Griff, Lessing's zweiten Leipziger Aufenthalt zum Mittelpunkt zu nehmen und von ihm aus nach den verschiedensten Richtungen Radien zu ziehen. Im Verkehr mit Lessing erhält Brawe's junges Leben und Streben den gewaltigen, fast gewaltsamen Anstoss, von der Miss Sara Sampson geht sein 'Freigeist' aus, von Lessing's damaligen Experimenten am fünffüssigen Jambus die Form seines 'Brutus'. Schärfer, als bisher trotz Danzel, tritt uns Lessing's bestimmende Bedeutung für die Leipziger Freunde entgegen, wie das für Kleist noch einmal genau verfolgt werden muss. Ich höre mit Vergnügen, dass gerade Sauer sich gegenwärtig eingehend mit Kleist beschäftigt und auch die oft verlangte kritische Ausgabe vorbereitet.

Mit der nöthigen Knappheit behandelt das erste Kapitel Brawe's Familien- und Lebensverhältnisse. Einiges boten auch die Schätze der Gleimstiftung. Interessant ist ferner ein hier aus der Handschrift mitgetheilter längerer Brief an Gellert, dessen Einfluss auf Brawe beleuchtet wird. Bemerkt zu werden verdiente, dass die darin enthaltenen 'einzigen Verse ausser dem Brutus' auch ein Versuch in der neuesten Metrik sind, denn einem iambischen Fünffüssler geht immer ein Hexameter mit der Vorschlagsilbe voraus, wie ihn in der Ode zunächste Uz, dann ausser Bodmer u.s.w. gerade die Leipziger Zachariae, Giseke, fortlaufend im grösseren schildernden Gedicht Brawe's Freund Kleist angewandt hatten.

Brawe's erstes Stück ist 'Der Freigeist', mit dem er sich um den Nicolai'schen Preis bewarb. Die Gesichtspunkte Nicolai's, von denen die Ausschreibung und Beurtheilung ausging, verdienten vielleicht ein paar Worte mehr. Gegen das Concurrenzwerk, Cronegk's 'Codrus', ein Drama ganz verschiedenen Stiles, scheint <Seite 731:> mir Sauer S. 33 zu ungnädig. Sonst habe ich der Zergliederung und Kritik nichts abzudingen und zuzufügen, da Sauer überall gründlich abgeerntet hat. Nur die Engländer kommen einige Male zu kurz, wo sich weitere Parallelen bieten. Auffallend ist mir, dass Sauer 'the gamester' von Moore, dieses auch in Deutschland damals allbekannte Werk, gar nicht berücksichtigt, weder hier, noch wenn er später die Entwicklung des deutschen bürgerlichen Trauerspieles untersucht. Wichtig wäre namentlich die Intrigue, der Intrigant und sein Opfer. Sehr gut hat Sauer den Begriff 'Freigeist' in der zeitgenössischen Literatur verfolgt, so dass hier ein tüchtiges Stück Geschichte der poetischen Technik in einen dankenswerthen culturgeschichtlichen Beitrag ausläuft, mag derselbe auch bei manchem Kleinlichen verweilen. Aber gerade die historische Behandlung des Kleinen ziert diese Arbeit. Sodann der Einfluss Young's, der wichtigere Lessing's, real wie formal.

In der Beurtheilung des 'Brutus' hat mir die Hervorkehrung des stoischen Elementes und was sich an Combinationen daran knüpft, besonders gefallen. Treffend sind auch zahlreiche stilistische Beobachtungen. Die Disposition ist überraschend, aber zwanglos parallel der des vorigen Kapitels: Vorbilder, wieder ein Engländer, wieder Lessing, dies Mal mehr nach Seiten der Form. Schliesslich wird die Aufführung in Wien, die einzige, besprochen.

Das vierte Kapitel behandelt 'Die literarischen Wirkungen der Miss Sara Sampson', ein bischen zu ausführlich, aber scharfsinnig und lehrreich. Freilich begegnen uns nur wenige stolze Namen. Mir sind einige der hier zergliederten ärmlichen Stücke nie vor Augen gekommen, aber die Kenntnis Martini's, Pfeil's, Weisse's, Sturz's, Brandes' wird, denke ich, ausreichen, um eine Kritik der verwandten, noch geringeren Dramen zu würdigen. Einzelheiten will ich nicht berühren. Die Analyse und Filiation hat hier, wie natürlich, manchmal etwas Ermüdendes, aber wiederum erfrischt Sauer seine Leser stets, indem er ihnen alle diese kahlen Sträuche im Schatten Lessing's und der Engländer zeigt. Wir verlieren nie den literarischen Zusammenhang; ein schwaches Motiv wird interessant, weil es typisch oder weil es eben nur Abschwächung eines Lessing'schen ist, ein gleichgiltiges Gesicht aus irgend einem Drama fesselt den Blick, weil wir die Familienähnlichkeit mit einem berühmten Verwandten entdecken, eine ungeschickte Rede erscheint bedeutsam als Nachhall kräftigerer Worte des Vorbildes. Indem wir diese Lehrlinge durchmustern, lernen wir auch den Lehrer intimer kennen. Sauer's Methode die Kleineren zu behandeln verdient als musterhaft empfohlen zu werden.

Motive der beiden Brawe'schen Stücke veranlassen Sauer S. 111 ff. zu einer Geschichte des Vatermordes im Drama des 18. Jahrhunderts, die für meinen Geschmack bisweilen Nichtigkeiten zu sorgsam insceniert. Nächstens werden wir eine ganze Criminalstatistik der in der Dichtung beliebtesten Verbrechen haben: Verführung, Kindesmord, Vatermord, Brudermord, Selbstmord. Auch hier manche feine Bemerkung, z.B. sind Phrasen des Goethe'schen Franz und des Leiswitz'schen Guido trefflich aus einer allgemeineren Strömung abgeleitet worden. Die feindlichen Brüder, über die ich schon gelegentlich gehandelt habe, kommen in meiner neuen kleinen Schrift über Lenz und Klinger nochmals an die Reihe. Sauer möchte die leidigen 'unglücklichen Brüder', jenes dritte Hamburger Stück, S. 118 mit Berger's 'Galora von Venedig' identificieren; ich zweifle an dem Gelingen des Nachweises und auch, bestärkt durch Stellen in Klischnig's Schlussbande zum 'Anton Reiser', an der Wahrscheinlichkeit.

Von den Anhängen liefert der erste eine unerhebliche Vergleichung der zwei Freigeistausgaben; willkommen ist der zweite über die 'Textgestaltung des Brutus' als ein Beitrag zur pseudokritischen Thätigkeit Ramler's, des 'ewigen Ausbesserers'. Höchst werthvoll ist der dritte, der genaue Nachweis, wie Brawe seinen fünffüssigen Jambus dem Lessing'schen nachgebildet hat, mit einer Entwicklung der ersten Lessing'schen Versuche, der geschickten Datierung und besonders durch die Zusammenstellung mit dem Philotas ausgezeichneten Charakteristik des Kleonnisfragmentes. Sauer beabsichtigt nach Zarncke's glücklichem Vorgange eine Geschichte des fünffüssigen Jambus bis zum Nathan, der den Vers erst wirklich für unser Drama eroberte, demnächst vorzulegen. Sein hier bewährtes metrisches Feingefühl lässt das Beste erwarten.

Strassburg i. E.

Erich Schmidt.


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