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ZWEITES CAPITEL.
DER FREIGEIST.
DER NICOLAISCHE PREIS.
Als Nicolai im Frühjahre 1756 die Bibliothek für die Liebhaber der schönen Wissenschaften oder wie sie später genannt wurde, die Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste ankündigte,
[1]
verband er damit die Anzeige einer Preisausschreibung 'für das beste Trauerspiel über eine beliebige Geschichte'. Der Preis betrug fünfzig Reichsthaler; die Prüfung der Stücke sollte nach den Regeln geschehen, welche die Abhandlung über das Trauerspiel von Nicolai im ersten Bande der Bibliothek entwickelte.
[2]
Der Termin der Einsendung wurde zuerst bis Ende 1756 festgesetzt, weil sich aber das ganze Unternehmen verzögerte, bis Ende October 1757 verlängert.
[3]
Lessing, der an dem Unternehmen grossen Antheil nahm, dachte selbst an Bewerbung und entwarf den Plan zur Emilia Galotti.
[4]
Kleist begann den Seneca, Weisse seinen Eduard III;
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beide verspäteten sich. Cronegk nahm sein schon früher begonnenes Trauerspiel Codrus wieder auf und sendete es nach mehrfacher Ueberarbeitung ein.
[1]
Wahrscheinlich begann Brawe den Freigeist erst in Folge der Preisausschreibung, also Anfang 1756. Im Februar des nächsten Jahres ist das Stück fertig, denn am 19. dieses Monats schickt es Lessing mit warm empfehlenden Worten an Nicolai; er nennt ihm den Namen des Verfassers, den er 'wegen vieler guten Eigenschaften ungemein hochschätze', und hofft, Nicolai werde ihm beistimmen, 'dass der erste Versuch eines Dichters von 19 Jahren unmöglich besser gerathen kann'.
[2]
Ausser diesen beiden Dramen lief nur noch eines ein, der Renegat, ein bürgerliches Trauerspiel in Alexandrinern von Karl Theodor Breithaupt, wurde aber als den beiden anderen nachstehend abgelehnt.
[3]
Ueber den Codrus und Freigeist entspann sich nun ein lebhafter Briefwechsel zwischen Nicolai und Mendelssohn einerseits und Lessing andererseits, der den letzteren zu einem eigenen Entwurfe Codrus anregte.
[4]
Lessing stellt den Freigeist entschieden über den Codrus,
[5]
schliesst sich aber zuletzt der gegentheiligen Meinung der beiden anderen an; das, was dieselben 'von der Schreibart und den Charakteren' des Freigeistes sagen, erklärt er sogar für 'völlig richtig'.
[6]
Die Preisrichter legten ihr Urtheil in dem Bericht vor dem Druck der beiden Stücke (im Anhang zu den beiden ersten Bänden der Bibliothek) nieder; dem Codrus wurde der Preis zuerkannt und besonders hervorgehoben,
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dass in demselben 'die Charaktere besser beobachtet, die Sentiments angemessener und der Ausdruck und Schreibart anständiger und ausgearbeiteter' seien. Im siebenten Stücke der Hamburgischen Dramaturgie kommt Lessing auf dieses Urtheil zurück und erklärt, dass der Codrus den Preis nicht als ein gutes Stück bekommen habe, sondern als das beste von denen, die damals um den Preis stritten.
[1]
Ob Cronegks Erklärung in dem anonymen beigelegten Zettel, er wolle auf den Preis verzichten und bitte denselben zu dem nächstjährigen dazuzuschlagen, bei den Preisrichtern etwa ein günstiges Vorurtheil für sein Stück erweckt habe, lasse ich dahin gestellt; jedenfalls aber hatten sie – weniger gewissenhaft, als man heute in solchen Dingen ist – auch jene Zettel, die sie nach der Ankündigung eigentlich uneröffnet vernichten sollten, sogleich erbrochen und trotz den Aufrufen in den Zeitungen bereits Kenntnis von dem Verfasser des Codrus gehabt
[2].
Für das Jahr 1758 wurde nun der verdoppelte Preis auf ein neues Trauerspiel ausgesetzt. Wieder musste der Termin hinausgeschoben werden, weil sich die Herausgabe des vierten Bandes verzögerte und weil keine des Preises würdigen Stücke eingelaufen waren. Da entschloss sich Weisse Anfangs 1759 sein inzwischen vollendetes Trauerspiel Eduard III. einzusenden, zog es aber Ostern desselben Jahres wieder zurück, weil er selbst die Redaction der Bibliothek übernommen hatte.
[3]
Endlich im Jahre 1760 musste sich Nicolai entschliessen, da alle Stücke schlecht waren, dem relativ besten den Preis zuzugestehen; es war dies die Alexandrinertragödie Barbarussa und Zaphire von Breithaupt; das Stück wurde nebst einem zweiten Trauerspiel in Alexandrinern, Gafforio, im Anhange zum dritten und vierten Bande der Bibliothek mit Nicolais Vorbericht gedruckt.
[4]
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[3]
Die betreffende Notiz (Bibl. 1,1) ist vom 20. April 1757 datirt.
[4]
Lessings Werke (Lachmann) 12, 100, 104, 105.
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[1]
Anhang zu den beiden ersten Bänden der Bibl. Gedanken über das Trauerspiel Codrus in einem Briefe an H. (von Cronegk selbst).
[2]
Werke (Lachmann) 12, 74.
[3]
Anhang zu den beiden ersten Bänden der Bibl. Vorrede S. XXI. Das Stück wurde wegen Raummangel nicht gedruckt, nur eine Scene aus dem fünften Akte mitgetheilt; es erschien Helmstädt 1759 vollständig umgearbeitet. Vgl. Capitel IV.
[4]
Werke (Lachmann) 12, 104, 105; Werke (Hempel) 11, b, 633-635.
[5]
Werke (Lachmann) 12, 100.
[6]
Werke (Lachmann) 12, 104.
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[1]
Werke (Hempel) 7, 90.
[2]
Werke (Lachmann) 12, 99, 104; 13, 51. Vorrede z. Anhang S. III.
[4]
Der Freygeist erschien gedruckt im 'Anhang zu dem ersten und zweiten Bande der Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste, enthaltend die Schriften, welche im Jahre 1757 um den
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Preis gestritten'. Leipzig Dyck 1758, nach dem Codrus S. 97-198 mit dem Motto aus Hallers Gedichte: 'Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben'. An den Herrn Professor Stähelin 1729. (Haller, Versuch schweizerischer Gedichte, 3. Auflage, Bern 1743, S. 40.)
'Hier spannt, o Sterbliche, der Seele Sehnen an,
Wo Wissen ewig nützt, und Irren schaden kann'.
Da die Vorrede zu diesem Anhang vom 28. März 1758 datirt, so scheint bei Brawes Tode der Freigeist noch nicht ausgegeben gewesen zu sein. 2. in den 'Trauerspielen des Herrn Joachim Wilhelm von Brawe'. Berlin, bey George Ludewig Winter. 1768. VI und 248. 8°, (vgl. Capitel III) nach dem Brutus; mit einigen Abweichungen vom ersten Drucke, welche wohl von Ramler herrühren (vgl. Anhang I.) 3. Selbständig. Berlin und Leipzig 1767. 8° (Maltzahn: Deutscher Bücherschatz S. 544, Nr. 2405.) 4. Danzig 1773. (Gothaer Theaterkalender auf 1780. S. 143.) 5. Danzig, bei Wedel 1767 (Herder's Werke Suphan II, 377.) 6. Theater der Deutschen. Berlin und Leipzig 1766, S. 173-262.
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